Falkenhof 03 - Im Banne des Falken
mochten.
Eines teilte Jana jedoch nicht mit Tobias – und zwar dessen Begeisterung für Chang und die Katakomben von Mulberry Hall, wie Jana die hohen Kellergewölbe unter dem Gewächshaus bezeichnete. Nur ein einziges Mal begleitete sie ihn dort hinunter.
»Dieses Durcheinander von Maschinen, Gestängen, Rohrleitungen, Seilzügen, Zahnrädern und was weiß ich noch alles macht mich ganz wirr, einmal von dem Rattern und Quietschen und Zischen und der Hitze, die da unten herrscht, und dem penetranten Geruch von Öl und Schmierfett und solchen Dingen ganz abgesehen. Das ist nichts für mich! Das war das erste und letzte Mal, dass ich da hinuntergegangen bin!«, versicherte sie ihm nachdrücklich.
»Aber die Technik und die unglaublichen Erfindungen, die Chang …«, wandte Tobias ein wenig enttäuscht ein.
»Die Technik mag ja wirklich bewundernswert sein, aber ich ziehe es doch vor, ihre Ergebnisse von oben zu bewundern, nämlich im Gewächshaus und nicht unten in den Katakomben«, erklärte sie unumwunden. »Und was diesen Chang betrifft, so möchte ich, um Gottes willen, seine Fähigkeiten und Verdienste nicht in Frage stellen. Aber wenn ich ehrlich sein soll, so gefallen mir sogar Parcivals gehässige Bemerkungen noch um einiges besser als die Einsilbigkeit dieses Kantonesen! Der geht ja so sparsam mit seinen Worten um, als wären sie aus purem Gold gegossen!«
Tobias war da zwar ganz anderer Meinung, musste sich jedoch geschlagen geben. Jana war für Chang und sein Reich einfach nicht zu begeistern. In den weitläufigen Gewölben herrschte zugegebenermaßen oftmals ein gehöriger Lärm, heiß war es zudem auch, und der Geruch von Öl und Schmiermitteln war so allgegenwärtig wie Ruß und Kohlenstaub. Aber genau das alles zusammen ergab nach Tobias’ Ansicht doch gerade diese faszinierende Atmosphäre, von der er gar nicht genug bekommen konnte.
Was den Chinesen anging, so schien dieser von ihm schon genug zu haben, kaum dass er ihn das erste Mal zu Gesicht bekommen hatte.
Chang war ein schmächtiger, sehniger Mann, kleiner als Jana und stets in einen weiten Anzug aus schwarzem glattem Kattun gekleidet, der an ihm wie ein Schlafanzug aussah. Ein spärlicher Bart hing wie vertrockneter, zotteliger Seetang von seinem spitzen Kinn, was sein scharf geschnittenes Gesicht noch schmaler und knochiger erscheinen ließ. Das dünne, pechschwarze Haupthaar trug er straff nach hinten gekämmt und im Nacken zu einem langen Zopf geflochten.
Tobias störte sich nicht an Changs ablehnender Haltung. Er blieb einfach in seiner Nähe, achtete darauf, ihm nicht im Weg zu sein, beobachtete ihn bei der Arbeit und übte sich in Schweigen wie in Geduld. Manchmal über mehrere Stunden hinweg, wenn Jana mit anderen Dingen beschäftigt war.
Am dritten Tag fiel Tobias auf, dass der Druck von einem der Dampfkessel stetig fiel. Er deutete auf die Anzeige, griff zur Schaufel und warf Chang einen fragenden Blick zu. Dieser zögerte kurz, dann gab er sein Einverständnis durch ein knappes Nicken. Tobias öffnete die Kesseltür und schaufelte Kohle hinein. Nach genau vierzehn vollen Schaufeln schloss er die Feuerluke wieder.
»Warum nicht mehr?«, fragte Chang knapp und irgendwie herausfordernd. »Warum nicht weniger?«
»Weil Sie die letzten beiden Male, als der Druck auf diese Höhe gesunken war, auch nur vierzehn volle Schaufeln nachgeworfen haben«, antwortete Tobias.
Zum ersten Mal zeigte sich ein Lächeln auf dem Gesicht des Chinesen. »Du hast sehr gut beobachtet.«
»Wer etwas lernen will, muss gut beobachten.«
»Und du willst lernen? Hier?«
Tobias nickte. »Ja, was ich kann.«
Chang zog ein Buch aus seiner Brusttasche. Es war schon sehr abgegriffen, aber doch nicht dreckig. Er schlug es auf. Die Seiten waren mit chinesischen Schriftzeichen bedeckt, die er ihm nun übersetzte: »›Lernen, ohne zu denken, das führt zu nichts; denken, ohne zu lernen, das macht lediglich müde.‹ Du hast beides verbunden. Das ist gut so.«
»Von wem ist das?«, fragte Tobias und dachte, dass es gut von Sadik hätte stammen können.
»Von Konfuzius, einem großen chinesischen Philosophen und Gelehrten«, antwortete Chang, »der diese Weisheiten schon ein halbes Jahrtausend vor eurer christlichen Zeitrechnung gelehrt hat. Und nun komm, ich will dir zeigen, wie die Seilzüge funktionieren, für die du dich schon seit Tagen so brennend interessierst.«
Von Stund an war Chang der geduldigste und entgegenkommendste Lehrer, den Tobias sich
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