Falkenjagd: Ein Fall für Robert Walcher (Ein Robert-Walcher-Krimi) (German Edition)
ziemlich nahe dran. Ernst Rotbauer, so hieß ihr Freund, lebte nach althumanistischen Werten, wie Ritterlichkeit, Ehrlichkeit, Hilfsbereitschaft, Zuverlässigkeit, und vor allem verfügte er über eine umfassende Bildung, die nur noch mit dem Brockhaus vergleichbar war. Rotbauer war Historiker und Dozent für Frühgeschichte an der Universität München oder, wie Lena Hein ihren Freund auch gern vorstellte, »ein wandelndes Lexikon«.
Es hätte eine harmonische, ausgewogene Partnerschaft sein können, wenn es da nicht Rotbauers Ehefrau gegeben hätte. Die beiden lebten zwar seit Jahren getrennt, aber Ernst konnte sich einfach nicht dazu durchringen, sich von seiner Frau scheiden zu lassen. Wenn sie seine Hilfe forderte, war Ernst sofort zur Stelle, egal ob es um die Rückgabe von Büchern an die Bibliothek, den fälligen Reifenwechsel oder die Renovierung ihrer Wohnung ging. Diesmal ging es um den gemeinsamen Kurzurlaub. Lena saß bereits in dem gebuchten Hotelzimmer, als er anrief und mit der Begründung absagte, dass er seine Frau versorgen müsse, die mit einer gefährlichen Erkältung im Bett lag. Enttäuscht und wütend warf Lena ihm vor: »Am liebsten wäre es dir wahrscheinlich, sie würde nicht mit einer Grippe, sondern mit dir im Bett liegen.«
»Bitte mach mir nicht schon wieder den Vorwurf, dass es mir schwerfällt, mich dieser Verpflichtung zu entziehen«, erwiderte Ernst Rotbauer. Er besaß die Fähigkeit der partiellen Wahrnehmung und die Gabe, derart niedere Unterstellungen in die von ihm gewünschte Richtung zu lenken.
»Und wo bleibt dein Gefühl der Verpflichtung mir gegenüber? Ich sitze hier wie verabredet im Hotel herum und warte auf dich.«
»Ich habe mich ja auch auf dich gefreut, aber schließlich bist du nicht krank, sie dagegen schon.«
Die Sachlichkeit, mit der Ernst Rotbauer auch bei dieser gefühlsbetonten Auseinandersetzung argumentierte – sonst empfand Lena besonders diese Sachlichkeit als einen wohltuenden Beleg für seinen Reifegrad –, provozierte sie in diesem Fall zum Einsatz größerer Geschütze.
»Dieses materialistische Weibsstück braucht bloß mit dem Finger zu schnippen und du springst, als wäre sie deine Mutter oder immer noch das Ziel deiner Träume«, fauchte Lena und wusste im selben Moment, dass sie zu hart zugeschlagen hatte.
»Ich glaube nicht, dass ich, noch dazu am Telefon, auf diesem Niveau mit dir diskutieren möchte«, bekam sie denn auch zur Antwort, bevor er auflegte. Dr. Lena Hein beschloss deshalb, nach Hause zu fahren. In ihrer Wohnung könnte sie sich besser ärgern als in diesem schwülstig eingerichteten und noch dazu sündhaft teuren Hotelzimmer. So kam es, dass Dr. Lena Hein nach zwei Tagen bereits wieder die Tür zu ihrer Wohnung aufschloss.
Das Telefon blinkte, und der kurze Ausflug aus ihrem Alltag war beendet, als sie die eingegangenen Anrufe durchging. Drei Mal hatte Doros Kollege Bernd Zettel angerufen. Die übrigen Anrufe waren alle privat, sie konnten warten.
Sie rief Zettel an. Zettel berichtete von den Razzien und dass er bei den anschließenden Vernehmungen der Frauen und Mädchen hinzugezogen worden war.
Dabei hatte er entsetzt festgestellt, dass drei der Mädchen aus Pflege-und Gastfamilien stammten, aus denen sie wieder entführt worden waren. Bei allen dreien handelte es sich um Vermittlungen, die SOWID organisiert hatte. Es musste also entweder bei SOWID oder bei ihnen im Amt eine undichte Stelle geben. Deswegen wollte er sich mit Dr. Hein treffen. Sie vereinbarten einen Termin für den nächsten Tag.
Lena musste nach dem Gespräch erst einmal tief Luft holen, denn Zettels Vermutung kam einer Katastrophe gleich. Sowohl bei SOWID als auch beim Jugendamt wurden die Namen und neuen Adressen der Opfer ebenso strikt geheim gehalten wie die Namen und Adressen der Gastfamilien. Nicht einmal die Kollegen kamen so ohne weiteres an diese Informationen.
Die Vorstellung, dass es ausgerechnet in ihrer Organisation oder im Jugendamt einen Informanten geben sollte, der mit der Gegenseite, mit Zuhältern und Menschenhändlern zusammenarbeiten könnte, versetzte sie geradezu in Panik.
Sie wählte die Nummer von Doro, die sie nicht nur als Ansprechpartnerin im Jugendamt betrachtete, sondern als Freundin. Doro konnte ihr vielleicht mehr berichten. Lena probierte es einige Male auf Doros Handy, ihrem privaten Festnetzanschluss und im Büro, immer in derselben Reihenfolge und immer erfolglos.
Schon beim zweiten Versuch bat sie auf allen
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