Falkenjagd
Ereignisse des vergangenen Tages
steckten ihr in den Knochen. Dass sie den Fängen der preußischen
Geheimpolizei entkommen war, grenzte an ein Wunder, dem sie fast noch
nicht traute. Sie hatte vergangene Nacht in einen tiefen Abgrund
geschaut und eine Angst geschmeckt, gegen die diejenige vor den
Schlägen des Vaters harmlos gewesen war. Hinter der Fassade dieses ach
so fortschrittlichen Preußens mit seinem dichtenden und
philosophierenden König verbarg sich eine perfekte Maschinerie, die
durch Machtgier, Argwohn und Menschenverachtung am Laufen gehalten
wurde.
Und diesem Land, diesem König habe ich vor ein paar Jahren
junge Burschen, so alt wie jetzt mein eigener Sohn, als Soldaten
verkauft. Damit sie in Mähren abgeschlachtet wurden. Bei diesen
Erinnerungen schüttelte sie plötzlich ein heftiges Schluchzen, und
Tränen liefen ihr über das Gesicht. Heinrich wurde flattrig vor Sorge
und streichelte ihr unablässig die Hand, bis sie schließlich
einschlafen konnte.
Zwei Tage später reiste die Markgräfin von
Ansbach in aller Eile ab. Ihre Kutsche begegnete derjenigen, in der
Voltaire saß. Er verließ Potsdam ebenfalls fluchtartig. Sie ließ
anhalten und begrüßte den berühmten französischen Dichter und
Philosophen, der dem Hof und dem Ruf ihres Bruders so viel Glanz und
Ansehen in Europa verschafft hatte. Dann fuhren sie weiter. Beide waren
heilfroh, als sie endlich die Grenzen Preußens passierten.
12
D er Kanal, der das Schwaninger Schloss von
seinen prächtigen Gärten und Wirtschaftsgütern trennte, zog sich an
diesem Oktobermorgen des Jahres 1756 wie ein glatter Seidenstrumpf
durchs Land. Noch dazu schimmerte er flohfarben, was die Modefarbe der
vergangenen Saison am französischen Hof gewesen war. Caroline von
Crailsheim, die die Fensterflügel ihres Mansardenzimmers weit geöffnet
hatte und es bei ihrer Größe auch schaffte, sich über die Brüstung zu
lehnen, wusste das ganz genau. Noch immer hielt sie sich mithilfe des Mercure de France über die große Welt auf dem Laufenden, auch wenn
sie inzwischen nicht einmal mehr am Hof von Ansbach lebte.
Trotzdem, dachte Caroline seufzend, stärkte einem diese
gewisse Weitläufigkeit den Rücken, wenn die einzige Abwechslung beim
Tee mit den beiden Hofdamen darin bestand, das tägliche Changieren der
Kanaloberfläche zwischen Taubenblau, Entengrützengrün oder ungeputztem
Zinn zu kommentieren.
Caroline kniff ihre kurzsichtig gewordenen Augen zusammen. Sie
beobachtete, wie sich die Gärtner rhythmisch auf und ab beugten, um die
verblühten Stauden abzuschneiden und auf Schubkarren zu laden. Der
herbe Geruch von Fäulnis und schwerer, feuchter Erde stieg zu ihr hoch.
Sie mochte ihn, denn mit dem Herbst ließen die quälenden Versuchungen
des Sommers nach. Die Düfte aus den Lindenalleen, die in den warmen
Nächten in ihr Zimmer geweht waren, erinnerten sie mehr als ihr lieb
war an die aufregenden Zeiten, als ihr Reifrock noch im Getümmel der
markgräflichen Residenz geraschelt und sie mit den Damen und Kavalieren
zwischen Zitronenbäumen Verstecken gespielt hatte. Jetzt bekam sie nur
noch Besuch von Reitzenstein; der allerdings war ihr treu.
Caroline wollte gerade das Fenster
schließen, als sie zwei Diener aus dem Haus rennen sah, unter deren
Stiefeln der Kies knirschte. Also musste der Mensch angekommen sein,
vor dem es der Markgräfin so graute.
Nachdem die Bayreuther Markgräfin, die in ganz Europa als
Kunstkennerin und Lieblingsschwester des Preußenkönigs gerühmte
Wilhelmine, von ihrer Italienreise zurückgekommen war, schied der
Kammerherr, der sie begleitet hatte, aus ihrem Dienst und nahm eine
neue Stelle als Diplomat am Hof des Königs von Dänemark an. Der junge
Mann bat brieflich darum, auf seinem Weg dorthin in Schwaningen Station
machen zu dürfen.
Friederike kannte diesen Karl Heinrich von
Gleichen nicht, aber sie bekam gleich ein mulmiges Gefühl, als sie sein
Schreiben las. Leuten aus der Umgebung ihrer Schwester traute sie
nicht. Bayreuth war eine Schlangengrube, und die Schwester spritzte am
meisten Gift. Der Kammerdiener würde ihr mit dem gleichen arroganten
Blick und abschätzigen Lächeln begegnen wie Wilhelmine.
Sie spaziert durch Schweinescheiße und schält eigenhändig
Kartoffeln, vor denen sich alle Menschen bekanntermaßen ekeln, hatte
die Schwester vor nicht langer Zeit über sie nach Berlin geschrieben.
Friederike wusste es genau. Die Bezeichnung ›närrisch‹ war gleich drei
Mal und ›geistig umwölkt‹ zwei
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