Falkenschwur: Die Fortsetzung des Bestsellers »Pestsiegel« (German Edition)
Burschen namens Stoneneave.«
»Neave. Tom Neave. Wer verlangt nach mir?«
»Eine Dame.«
»Eine Dame!« Aus einem Fenster in der Nähe ertönten Pfiffe. »Du kannst gerne an meine Tür klopfen, Schätzchen!«
Eine andere Stimme brüllte: »Lass uns mal deinen Schlitz sehen!«
Ich entfernte die Kette. Der erste dichte Winternebel stieg vom Fluss auf. Ich brauchte einen Moment, bis ich die unter einem Umhang verborgene und verschleierte Gestalt ausmachen konnte, die der Kutsche entstieg. Weitere Pfiffe ertönten, aber aus einem Fenster auf der anderen Straßenseite kam eine Salve Schimpfwörter, gefolgt von etwas, das wie eine Portion Schläfers Rache aussah und durch die Luft auf uns zu segelte. Der Kutscher duckte sich. Die Frau stürzte beinahe, als sie hastig dem Ding auszuweichen suchte, das neben ihr zerschmetterte. Zum Glück war es kein Nachttopf, sondern eine Schüssel mit kaltem Porridge, der ihre Röcke bespritzte. Ihr Schleier wehte zurück, und ich erkannte Anne. Die Beschimpfungen und das Pfeifkonzert hielten an, als ich sie ins Haus zog.
»Was ist los, Anne? Was ist geschehen?«
Sie starrte auf etwas hinter mir. Auf halber Stiege, mit einer Kerze in der Hand und nur ein Laken um den Leib geschlungen, stand Ellie. Ich hatte nur einen Gedanken. Eine entsetzliche Furcht verwandelte meinen Magen in einen Eisklumpen.
»Es geht um Luke, oder?«
Anne antwortete nicht. Ihr Atem ging stoßweise. Das Gesicht unter ihrem gelüfteten Schleier war leichenblass, den Blick hielt sie starr auf Ellie gerichtet.
Ellie machte eine einzige Bewegung. Sie hob ihr Kinn ein winziges Stück an, so wie sie es tat, wenn sie Anne nachahmte. Das Laken verrutschte, und die goldene Halskette zwischen ihren zarten Brüsten wurde sichtbar. Sie zog das Laken wieder enger um sich, drehte sich um und kletterte die Stiege empor.
Ich schüttelte Anne so heftig, dass ihr der Schleier wieder vors Gesicht fiel. Ich riss ihn halb beiseite. »Antworte mir. Es ist Luke, nicht wahr?«
»Es ist dein Großvater. Er stirbt. Er will dich sehen.«
Ich war so überzeugt gewesen, dass es um Luke ging, dass ich keine Luft mehr bekommen hatte. Erleichtert schloss ich die Augen und atmete in tiefen Zügen. Jetzt schüttelte sie mich, und auf ihren Wangen bildeten sich rote Flecken.
»Begreifst du nicht? Lord Stonehouse stirbt!«
Ich fürchtete eine Art Strafe, falls ich der Bitte eines sterbenden Mannes nicht nachkäme. Und obwohl keine Liebe zwischen uns herrschte, hatte ich in dieser tiefsten Nacht, in einer Mietkutsche, die durch die leeren Straßen polterte, zum ersten Mal das Gefühl, Lord Stonehouse sei von meinem Fleisch und Blut.
Er starb schon so lange, dass ich gedacht hatte, es würde nie mit ihm zu Ende gehen. Als ich ihn das erste Mal aufsuchte, hörte ich ihn zu seinem Sohn sagen, er habe noch ein Jahr zu leben. Das war vor fünf Jahren gewesen. Doch er hatte seine Nierensteine sowie zahllose andere Leiden, echte und eingebildete, überlebt. Bevor ich ihm persönlich begegnete, war er lange Zeit ein eigentümliches Phantasiegebilde gewesen, das mich an unsichtbaren Fäden zog. Solche Wesen starben nicht.
Mir kam der Gedanke, dass dies ein Trick sein könnte, um mich zurückzuholen. Ich packte Annes Arm. »Sagst du mir auch die Wahrheit? Stirbt er wirklich? Lord Stonehouse?«
Ihr angespanntes Gesicht war Antwort genug. »Ich bete darum, dass wir nicht zu spät kommen.«
»Hat er nach mir gefragt?«
»Nach Tom Neave.«
»Tom Neave? Nicht Stonehouse?«
»Ja. Tom …« Sie schluckte, und ihre Lippen wurden schmal. Es war, als brächte sie meinen Geburtsnamen nicht mehr über die Lippen. »Es gibt Momente, in denen er so klar ist wie der helllichte Tag. Und dann wieder flackert sein Verstand wie eine Kerze. Er redet wirr.« Sie wandte sich an den Kutscher. »Kannst du nicht schneller machen?«
»In dieser Suppe?«
Er deutete mit einer Handbewegung auf den schmutzig-gelben Nebel, der aus dem Fluss emporkroch, den Mond als bleichen Geist erscheinen ließ, die Gebäude in einen weichen Schleier hüllte, die Gassen mit kleinen Strudeln durchzog und seine klammen, nach Ruß stinkenden Finger in die Kutsche streckte.
»Ein Mann liegt im Sterben.«
»Wenn ich meine Pferde umbringe, kommen wir gar nicht an, Madame.«
Der Nebel wurde sogar noch dichter, die Kutsche kroch noch langsamer über das Pflaster. Ich konnte die Pferde hören, aber nicht sehen, und der Kutscher war nicht mehr als ein Schemen.
»Ropemaker Street«,
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