Falkenschwur: Die Fortsetzung des Bestsellers »Pestsiegel« (German Edition)
Informationen seien außerordentlich heikel, und es wäre überaus leichtsinnig von mir, damit abzureisen, allein, zu so später Stunde.
Er schritt durch den Raum, die Hände auf dem Rücken gefaltet, wie ein weiser Vater, der seinem Sohn Ratschläge erteilt. Die Aufregung, die er gezeigt hatte, als ich Lord Stonehouses Brief hervorgeholt hatte, schien sich vollkommen gelegt zu haben.
Drittens – sein Finger nahm eine sonderbare Form an, wie ein verkohltes Würstchen – war ein Brief ein Brief und kein Vertrag, selbst wenn er von jemandem stammte, dem man so bedingungslos vertrauen konnte wie Lord Stonehouse. Er lächelte, als sei Lord Stonehouse die letzte Person auf Erden, der er vertrauen würde.
»Er sagte mir, es sei dringend! Es gibt keine Zeit zu …«
Ich sprang auf. Oder besser, ich versuchte es. Meine Beine schienen in verschiedene Richtungen laufen zu wollen. Sir Lewis ergriff meinen Arm, seine Stimme klang sehr besorgt. Er kenne das. Ich sei nicht in dem Zustand, um zu reisen.
Doch seltsamerweise schien ich gleichwohl zu reisen. Ich spürte kalte Luft auf meinem Gesicht, nahm das Rütteln und den Gestank eines Karren wahr. Es war jener Pestkarren, auf den man mich nach meiner Geburt geworfen hatte. Ich sah das erboste, verzerrte Gesicht meines Vaters Richard und roch das ekelerregende, kalkgetränkte Stroh, ehe ich um mich tretend und schlagend aus dem Albtraum erwachte.
Sir Lewis’ Gesicht tauchte verschwommen in meinem Blickfeld auf. Das Treppenhaus um mich herum schwankte. Zwei Diener halfen mir Stufe um Stufe empor, doch einer von ihnen sah gar nicht wie ein Diener aus. Er trug keine Livree, sondern das lederne Wams eines Soldaten. Von einer Kriegsverletzung war seine Nase gespalten, die Nasenlöcher auf abscheuliche Weise verdreht, raspelnd atmete er neben meinem Ohr. Irgendwo hinter mir schwebte Sir Lewis’ Stimme.
Morgen würden wir gemeinsam nach London reiten, sagte er, um Lord Stonehouse zu besuchen. Natürlich erst, nachdem er die Bekanntschaft mit seinem alten Freund Scogman erneuert hätte.
Scogman! Ich versuchte mich umzudrehen, wurde aber von dem Mann mit der gespaltenen Nase gepackt, und obwohl ich mir alle Mühe gab, brachte ich kein Wort heraus. Ich befand mich in einem Raum voll Mondlicht und mit roten Wandbehängen, und all das schaukelte und schwankte um mich herum wie eine raue See, in der ich nach kurzem Kampf versank.
15. Kapitel
Der Lärm drang in meinen schweren, trägen Schlaf. Scharfe Tagesgeräusche: Jemand stocherte in einem Feuer, das Klappern von Hufen auf dem Kopfsteinpflaster. Ich öffnete die Augen einen Spaltbreit. Und schloss sie wieder. Selbst das Dämmerlicht war unerträglich. Ich wollte nichts, als in den Schlaf zurücksinken, aber mein letzter zusammenhängender Gedanke schoss mir in den Kopf, scharf wie ein Messer. Scogman. Ich zwang mich, die Augen zu öffnen, und richtete mich mühsam auf.
Der Raum war mit modrigen und zerschlissenen Wandteppichen ausgekleidet, auf denen die Jahreszeiten dargestellt waren. Ich befand mich im obersten Stock des Hauses, mit Blick auf den Tudorflügel. Die Sonne war gerade erst aufgegangen. Kein Windhauch regte sich, und das Licht hatte etwas Flirrendes, Leuchtendes, und ließ das taunasse Gras funkeln. Es versprach, ein heißer Tag zu werden.
Die friedliche Szene wurde durch Rufe aus der Ferne gestört. Eine Gruppe Männer trat aus dem Tudorflügel. Sie trugen die ledernen Hüte und die Kleidung von Soldaten, drängelten und rempelten einander an. Ich erhaschte einen flüchtigen Blick auf ein Gesicht mit tiefen Falten und fing das Näseln eines holländischen Akzents auf, als einer der Männer etwas rief. Es waren Landsknechte. Einer trug etwas, das ich seit dem Ende des Krieges nicht mehr gesehen hatte: das rote Halstuch der Royalisten. Sie pissten in die Büsche. Einer stieß den anderen an, so dass er seine Kniehosen benässte. Was als Ausgelassenheit und Flachserei begonnen hatte, endete im Kampf, bis eine Stimme ertönte. Sie kam vom Vorbau des Flügels. Ich konnte den Mann nicht sehen oder verstehen, was er sagte, aber seine Worte zeigten unmittelbar Wirkung. Schweigend beendeten die Männer ihr Geschäft. Der Landsknecht mit dem roten Halstuch entfernte das Tuch. Der Mann unter dem Vorbau, der sie zum Verstummen gebracht hatte, trat ein Stück weiter vor, so dass seine Stiefel zu erkennen waren.
»Denkt daran, für wen ihr kämpft«, sagte er leise.
Ich beugte mich aus dem Fenster und hielt mich dabei
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