Fallera
und suchen nach uns«, teilte ich den verpennten und hier und da auch verstörten Mienen mit. »Und glaubt mir, ich sag das nicht gern, aber wie die Dinge stehen, suchen sie uns, um uns umzubringen.«
Jetzt waren sie nicht mehr verpennt, die Gesichter. Dafür umso verstörter.
»Was ich nicht kapiere«, fuhr ich fort, »was mir nicht in den Schädel will, ist: warum?«
Uwe hob eine Hand, schnippte mit dem Finger und artikulierte blasig.
»Uwe weiß, warum«, sagte Christine.
Scheiße, dachte ich. Ausgerechnet er. Der mit Abstand
Sprachgestörteste des ganzen stammelnden Haufens.
»Und woher?«, fragte ich. »Woher weiß er das?«
»Er hat eine Nacht bei denen im Zelt gepennt, schon vergessen? Und da hat er sie belauscht.«
»Christine? Sagst du mir eins? Warum dauern deine klaren Momente immer nur so kurz?«
»Weil sie furchtbar sind, darum. Weil mir in meinen klaren Momenten bewusst wird, dass ich eine vergewaltigte, entstellte und behinderte Frau bin und dass die beiden Kerle, die mir das angetan haben, immer noch frei herumlaufen. Weil niemand meine Aussagen ernst nimmt. Darum.«
Und sie wandte sich ab, griff sich eine Schüssel und begann, Rührei zu Schaum zu schlagen. Ich sah noch, wie Mona ihr einen Arm um die Schultern legte, dann konzentrierte ich mich auf Uwe, der sich an den Tisch gesetzt hatte, mit allen Anzeichen von gespannter Erwartung flankiert von Egon und
Alfred.
»Also«, begann ich, »lass es uns hören. Worum um alles in der Welt geht es hier? Wofür mussten Doktor Weifenheim, Wurstauge, Atze, Horst und Toni sterben? Wenn du die Antwort weißt, dann raus damit.«
Keine Anstrengung der Welt vermochte Uwe das Sprechen zu ermöglichen. Es war schmerzhaft, ihm dabei zuzusehen, und unglaublich schwer, sich dabei in Geduld zu fassen. Seine beiden Tischnachbarn hingen an seinen blasenwerfenden Lippen, nickten ermutigend bei jeder gequälten Lautäußerung. Egons rundes und Alfreds kantiges Gesicht verzerrten sich, so sehr fühlten sie die Anstrengung mit. Doch es kam nichts Verwertbares dabei herum.
Schließlich bat ich Uwe, sich zu beruhigen. »Das hat keinen
Zweck, so«, stellte ich fest. Doch was dann?
»U-e 'ann malen«, warf Egon ein, und Alfred nickte gewichtig dazu.
»Echt? Hat jemand mal 'n Blatt Papier und 'nen Stift?«
Mona brachte die Sachen an, und nun umstanden wir alle den Tisch, während hinten auf der Werkbank der Kaffee überkochte.
Egon und Alfred hielten das Papier an Ort und Stelle, sobald Uwe den Stift mit der rechten Faust packte und die Zungenspitze mit den Zähnen, den Oberkörper über den Tisch beugte und den Kopf, so weit es ging, nach hinten.
Das gibt nie was, dachte ich, und dann fielen mir die Handschellen wieder ein, und ich entschied mich abzuwarten.
Striche. Kurze, senkrechte Striche erschienen auf dem Papier. Mehr oder weniger gleich kurz, mehr oder weniger gerade und mehr oder weniger nebeneinander.
Egon wusste gleich, worum es ging, denn er zählte vom ersten an laut mit, kam um die Sieben herum kurz durcheinander, fing sich dann aber wieder, und er und Uwe strahlten einander mit außerordentlicher Zufriedenheit an, als sie gemeinsam bei Zehn angekommen waren.
»Zehn«, sagte ich, geistreich, wie ich sein kann, und von bestechender Beobachtungsgabe. »Zehn was?«, fragte ich, ohne mich stoppen zu können, gepiesackt von Neugier.
Egon und Alfred strafften wieder das Papier, und Uwe machte sich erneut ans Werk. Irgendjemand ging und nahm den Kaffee von der Kochplatte.
Ein - seien wir großzügig - ein Rechteck entstand.
»Ein Rechteck«, sagte ich. Uwe verneinte vehement.
»Zehn Rechtecke«, besserte ich nach. Ja, das kam schon eher hin, war's aber natürlich noch nicht.
»Zehn rechteckige Gegenstände«, riet ich drauflos. Uwe war nicht einverstanden. Setzte den Griffel erneut an.
»Zehn Bücher? Zehn Türen? Zehn Akten? Zehn Seiten Papier? Zehn Stücke Blech? Zehn Schachteln?« Irgendwas in Uwes ununterscheidbarem Nicken und Kopfschütteln suggerierte, dass wir mit der dritten Dimension näher dran waren als mit flachen Sachen wie Papier. Gleichzeitig krakelte er mit äußerster Anstrengung weiter. »Zehn Kisten? Große Kisten? Zehn Container?« Nein, nein, nein. Nichts davon. Uwe lehnte sich zurück, um mir den Blick freizugeben.
Links und rechts von dem Rechteck war jetzt jeweils ein Kreis entstanden. Na ja. Man denke sich eine gebogene Linie, die ungefähr da endet, wo sie angefangen hat, und man spürt den Geist eines Kreises. Die
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