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Fallkraut

Fallkraut

Titel: Fallkraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucette ter Borg
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Doch Sigrid ist verschwunden. Auf dem Stuhl neben dem Kleiderschrank liegt ein weißes Knäuel: ihr Nachthemd. Der blaue ­Hosenrock und die Leinenbluse, die sie gestern anhatte, sind weg. Unten auf dem Hof höre ich das Rattern von Bierfässern über Beton, schwere Männerstimmen und dazwischen die hohe Stimme von Annelore, die unverständlich mit den Hunden plaudert.
    Wie spät ist es? Habe ich das Frühstück verpasst? Meine Kaiserbrötchen!
    Ich lange nach der Hoteluhr, die neben meinem Gebiss auf dem Nachtschränkchen steht. Viertel nach zehn! Und Frühstück gibt es nur bis zehn.
    Mit einem Plumps lasse ich mich zurückfallen. Warum hat Sigrid mich nicht geweckt? Sie weiß, wie sehr ich mich auf ein Frühstück freue, das für mich bereitsteht. Ich habe im Zug auf der Fahrt hierher sogar noch darüber gesprochen. Von mir aus mag es jeden Tag Bindfäden regnen, ich will gern vom Fenster unseres Hotelzimmers aus die Autos auf der Straße zählen oder ganz viele Partien Patience spielen, um durch die Tage zu kommen, wenn ich morgens im Frühstücksraum nur von so einem Körbchen mit lachenden Kaiserbrötchen begrüßt werde.
    Brötchen mit einem Herzen, das sich entfaltet wie eine Bergweide, verlockender als alle Lieder der Loreley zusammen. Oben knusprig und unten nachgiebig. So gelingen sie nur, wenn man das Geheimnis von dem Schälchen Wasser kennt, das in den Ofen neben den Brotteig gehört. Zwei, drei Kaiserbrötchen mit Kaffee und ein Teller mit Schmelzkäse, Marmelade und Butter. Viel mehr braucht es gar nicht zu sein. Mit so wenig bin ich schon zufrieden.
    Meine Augen gleiten über die groben Körner des Stucks an der Decke, die Blasen der schnell getünchten Raufasertapete an der Wand, die Hängelampe mit perlweißem Rockschirm und schließlich den Spruch neben dem Spiegel: »Ein guter Gast ist niemandem zur Last.«
    Â»Ich bin der Welt abhanden gekommen«, murmele ich.
    Ich summe die Melodie, die Mahler zu Rückerts Versen komponiert hat. Bei der letzten Strophe – »Ich leb’ allein in meinem Himmel, in meinem Lieben, in meinem Lied!« – spüre ich plötzlich Tränen hinter meinen Lidern aufsteigen.
    Sigrid würde sagen: Plärrst du wieder über dich selbst?
    Karel würde motzen: Werd endlich erwachsen, Mensch.
    Ich kneife die Augen zu. Vielleicht kommen die Tränen wirklich.
    Karel konnte gut schreien. »Werd erwachsen!«, schrie er. Im Krieg. Er zog mir die Haustür direkt vor der Nase zu und ließ mich in meinem Putzkittel draußen stehen, in dem Winter, in dem mehr als ein Meter Schnee fiel, der Kanal zugefroren war und keine Schiffe, keine Busse, keine Züge mehr fuhren. Ich flehte und hämmerte an die Tür. »Mach auf. Hör doch bitte auf damit. Denk an unseren Otto. Hör auf. Das hier bringt uns nur unermesslich viel Kummer.«
    Wütend war Karel. Auf dem Kiesweg hörte ich, wie er den Klavierdeckel zuschlug und etwas Schweres auf die Erde fiel. Das war bestimmt die Beethoven-Büste. Später stand er in seiner braunen Uniform und den schwarzen Stiefeln mit verschränkten Armen im Wohnzimmer. Ich schaute auf den Sand, der von seinen Stiefeln auf den Teppich fiel, ich hatte gerade gekehrt. Er sagte, es werde Zeit, dass ich mich nicht mehr nur auf meinen Bauchnabel fixierte, sondern meinen Blick erweiterte und meine Aufmerksamkeit auch mal auf das Untergestell und die Füße richtete. Damit meinte er nicht Otto oder meine Schuhe, sondern die große national gesinnte Bewegung. Das sei der Riese, auf dessen Schultern wir stehen müssten. Das sei das Fundament, das uns im Gleichgewicht halte und dafür sorge, dass unsere Füße trocken blieben.
    Â»Werd erwachsen«, sagte Karel, als er aus dem Lager heimkam, und nicht sofort die beste Stimmung bei uns herrschte. Doch wie kann ich auf einmal ein Sonnenschein sein mit einem Mann, der sich in einen Sensenmann verwandelt hat? Der arbeitslos zu Hause sitzt, keinen Cent hereinbringt, aber an allem herummäkelt, wie ich Staub wische, abwasche und die Betten mache. Und der zu allem Unglück auch noch krank wird, so krank, dass sein Gesicht immer mehr den blassen, glänzenden Bananen gleicht, die ich unten in der Obstschale liegen habe. Nicht schön, nein.
    Ich habe mein Bestes getan, mehr kann ein Mensch nicht tun.
    Ich kratzte mit Klavierstunden das Geld zusammen. Ich sorgte

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