Fallon, Jennifer - Gezeitenstern Saga 2 - Die Goetter von Amyrantha
kleine Echse«, riet der Mann ihr freundlich. »Sei ruhig, und du wirst nicht verletzt.«
Tiji schoss eine Unzahl unflätiger rebellischer Antworten durch den Kopf, aber sie kam nicht dazu, auch nur eine davon auszusprechen. Der Mann hatte seinen Satz kaum beendet, als ihr durch den Sack hindurch ein feuchter Lappen auf Mund und Nase gepresst wurde. Es roch leicht süßlich und muffig, aber sie hatte keine Wahl, als es einzuatmen. Danach fühlte sie nichts mehr.
Als Tiji wach wurde, geschah das ganz plötzlich. Eben noch war sie bewusstlos, im nächsten Augenblick lag sie auf dem Boden und war von Fackeln tragenden Fremden umringt. In wilder Panik kämpfte sie darum, sich aufzusetzen, und starrte wütend in den Kreis gesichtsloser Gestalten, der sie umgab. In der Dunkelheit konnte sie nur ihre Augen erkennen, die wie kleine Spiegel die Flammen der Fackeln reflektierten.
»Hab keine Angst«, flüsterte eine Stimme sanft. »Wir werden dir nichts tun.«
»Ja, das weiß ich schon, seit ihr mich am helllichten Tag von der Straße gezerrt, bewusstlos geschlagen und entführt habt.«
»Das war nötig«, erklärte ihr eine andere körperlose Stimme. »Du wärst vielleicht nicht freiwillig mitgekommen.«
»Davon kannst du ausgehen«, gab sie zurück und rappelte sich vorsichtig auf die Füße, als ihr bewusst wurde, dass sie am Boden sitzend keine guten Fluchtmöglichkeiten hatte. Niemand hinderte sie am Aufstehen. Stattdessen rückten sie etwas ab, um ihr Platz zu machen. »Wer seid ihr überhaupt? Sklavenhändler?«
Jemand lachte. »Tatsächlich sind wir genau das Gegenteil. Wir sind sozusagen ... Entsklaver ... ja, ich schätze, so könnte man uns nennen.«
»Ich glaube nicht, dass es dieses Wort gibt.«
»Nein, wohl nicht. Wie ist dein Name?«
»Tiji«, sagte sie argwöhnisch und wünschte, sie könnte hinter den Kreis von Fackeln sehen. »Und deiner?«
Endlich trat einer ihrer Entführer ins Licht und zeigte sich. Er war etwas größer als sie, völlig haarlos und trug keinen Faden am Leib. Und plötzlich wurde Tiji klar, warum es so schwer gewesen war, sie zu erkennen. Es lag nicht an der Dunkelheit.
Sie waren getarnt.
Der junge Mann - er war eindeutig ein Mann - erlaubte seiner Haut, ihren natürlichen Silberschein anzunehmen. Er lächelte sie an, leicht belustigt, wie es schien, über Tijis vor Verblüffung weit offen stehenden Mund.
»Mein Name ist Azquil, und wir sind nicht hier, um dich zu versklaven«, sagte der Chamäleon-Crasii. »Wir sind hier, um dich nach Hause zu bringen.«
70
Lukys war nicht zu Hause. Cayal musste nicht erst bis zur Villa reiten, um das zu merken. Aber er machte trotzdem dort Halt, weil er hoffte, dass der Gezeitenfürst bei seiner Frau Oritha einen Hinweis auf seinen Aufenthaltsort hinterlassen hatte. Die junge Frau begrüßte ihn wie einen Ehrengast. Sie schien geradezu Mitleid erregend dankbar für ein wenig Gesellschaft, arrangierte hastig ein verschwenderisches Festmahl für den alten Freund ihres Gemahls und erzählte ihm dann, welche Nachricht Lukys für ihn hinterlassen hatte.
»Er ist nach Jelidien aufgebrochen, Herr«, verkündete sie, während sie das Geschirr abräumte. Sie hatte ihn persönlich bedient und nie mehr als zwei Herzschläge lang allein gelassen, als fürchtete sie, er könnte verschwinden, wenn sie ihn zu lange aus den Augen ließ.
»Nach Jelidien?«
»Mein Ryda reist viel«, erklärte die junge Frau lächelnd. »Er ist ein sehr wichtiger Mann.«
Cayal runzelte bei dem Namen kurz die Stirn, bis ihm einfiel, welche Identität Lukys diesmal angenommen hatte. Ryda Tarek, reicher Juwelenhändler aus Stevanien.
»Warum Jelidien?«
»Er sagte etwas davon, dass er nach etwas Wertvollem sehen müsse, was er da unten eingelagert hat.« Sie lächelte schüchtern. »Wollt ihr über Nacht bleiben, Herr?«
Cayal nickte. Er fragte sich, was in aller Welt Lukys für einen Anlass haben mochte, jetzt nach Kentravyon zu sehen. Sofern er nicht gerade befürchtete, die steigende Flut könnte die Fesseln des gefrorenen Gezeitenfürsten lockern, gab es eigentlich keinen Grund, dorthin zu gehen.
»Ist er schon lange weg?«, fragte er, als ihm einfiel, dass es von Nutzen sein könnte, seinen alten Freund einzuholen, falls er noch keinen allzu großen Vorsprung hatte. Schon um zu erfahren, warum er es für nötig hielt, den südlichen Kontinent aufzusuchen. Kentravyon war seit Tausenden von Jahren dort gefangen. Es schien merkwürdig, ausgerechnet jetzt nach
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