Fallon, Jennifer - Gezeitenstern Saga 3 - Der Palast der verlorenen Traeume
drehte sich um. Draußen vor der Tür hatten sich etliche Leute eingefunden. »Lasst die Felide laufen. Nur die Menschen sind zu bestrafen.«
Entsetzt sah Arkady die Unsterblichen an. »Aber ich bin unschuldig!«
»Das mag schon sein«, sagte Ambria. »Aber wie du selbst zugegeben hast, kannst du auch der Anlass sein, dass Cayal oder Brynden unsere Küste heimsuchen. Da die Gezeiten steigen, ist es uns lieber, wenn sie nicht ahnen, wo wir sind …«
»Ich würde es nie verraten!«
»Und wir beabsichtigen das sicherzustellen.« Arryl wandte sich ab. »Bringt sie zum Baum der Gerechtigkeit.«
Während ihrer Debatte hatte sich auf der Veranda ein richtiger Volksauflauf gebildet. Die Menge bestand größtenteils aus dorfansässigen Crasii. Ein junger Chamälide, der ihr Anführer zu sein schien, kam aufgeregt in den Raum gestürzt, eilte auf geradem Weg zum Bett und fiel neben Tiji auf die Knie. Er wirkte außer sich vor Sorge.
»Gezeiten, Tiji, warum hast du nicht auf mich gewartet«, sagte er und streichelte ihre bleichen grauen Schuppen. Dann sah er Arryl flehend an. »Könnt Ihr sie retten, Mylady?«
»Ich kann es versuchen, Azquil«, sagte Arryl. »Aber die Flut hat ihren Höchststand noch lange nicht erreicht, und vielleicht ist sie schon zu weit hinüber …«
»Bitte tut alles, was in Eurer Macht steht, Mylady.« Er beugte sich vor und küsste Tijis blasse Stirn. Dann erhob er sich und wandte sich den anderen zu. Seine Miene war jetzt versteinert. »Ich kümmere mich um diese beiden hier. – Schnappt sie euch!« Noch ehe Arkady erneut ihre Unschuld beteuern konnte, stürmte ein Trupp Chamäleon-Crasii in den kleinen Raum und packte die beiden menschlichen Gefangenen. Azquil warf einen Blick auf Jojo und runzelte die Stirn. »Wir sollten die Felide ebenfalls töten, Mylady.«
Arryl schüttelte den Kopf. »Sie ist hierfür nicht verantwortlich.«
»Aber sie ist eine Felide. Ihre Art würde uns töten, sobald sie uns nur sieht. Sie kann nicht hierbleiben.«
»Steh auf«, befahl Arryl. Ohne zu zögern, erhob sich Jojo.
»Du lebst, weil wir entschieden haben, dich am Leben zu lassen«, sagte die Unsterbliche zu ihr. »Aber deine Art ist den Feuchtgebieten nicht willkommen. Du musst jetzt gehen und darfst niemals hierher zurückkehren. Hast du verstanden?«
»Ich atme nur, um Euch zu dienen«, wiederholte Jojo, als hätte sie die Fähigkeit verloren, etwas anderes zu sagen.
»Ihr könnt hier nicht einfach meine Sklaven herumkommandieren!«, protestierte Cydne, der sich völlig sinnlos sträubte, als die Crasii ihm die Hände auf dem Rücken fesselten.
Oh doch, und ob sie das können, hätte Arkady ihm sagen können, wenn sie etwas wohlwollender gestimmt gewesen wäre. Ihre Hände wurden auf die gleiche Weise gefesselt wie bei Cydne. Das ist ja das Gefährliche an den Gezeitenfürsten. Jeder hörige Crasii auf Amyrantha gehorcht ihnen bedingungslos.
Aber Jojos Schicksal war nun nicht mehr ihre Sache. Sobald sie gefesselt waren, schleifte man Arkady und Cydne aus der Hütte und zum Zentrum der Gemeinde, begleitet von einer blutdürstenden aufgebrachten Meute. Cydne beschwerte sich lautstark und entrüstet, als man ihn neben ihr herzog. Arkady konnte nicht einschätzen, ob er überhaupt begriff, wie ungeheuerlich sein Verbrechen war oder dass, die Meute es bitterernst meinte. Sie verlangten Gerechtigkeit – und Sühne.
Arkady machte sich nichts vor. Arryl war eine Unsterbliche, und auch wenn sie anscheinend mehr Mitgefühl besaß als die meisten anderen Unsterblichen, die Arkady kannte, so würden doch weder Arryl noch Medwen noch Ambria das Risiko eingehen, ihr friedliches Dasein im Verborgenen aufs Spiel zu setzen.
»Wenn mein Vater erfährt, wie ich hier behandelt werde …«, geiferte Cydne, als könnte die Drohung mit dem Zorn irgendeines Menschen aus PortTraeker, von dem die Crasii nie gehört hatten, auch nur den geringsten Eindruck machen auf die Gefühle dieser Meute aus trauernden Müttern, Vätern, Gefährten, Söhnen und Töchtern … »Halt den Mund, Cydne.«
Schließlich kamen sie zu einem Baum, einer gewaltigen steinalten Palme, die direkt am Ufer des größten Wasserwegs etwas abseits des eigentlichen Dorfes stand. Das jahrzehntelange Ernten der riesigen Blätter für Dachbau und Flechtwerk hatte einen mit Aststümpfen und Dornen übersäten Stamm hinterlassen. Die Stümpfe waren zu scharfen Spitzen geschliffen und mit dem Blut von Generationen vorangegangener Schurken getränkt.
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