Fallon, Jennifer - Gezeitenstern Saga 3 - Der Palast der verlorenen Traeume
versuchte am Handgelenk seinen Puls zu tasten, fand ihn aber nicht.
Seine Mutter musste es in ihrem Gesichtsausdruck gelesen haben. »Er stirbt, oder?«, fragte sie leise.
Arkady nickte stumm. Am Ende war nun doch Pessimismus an der Tagesordnung.
»Es war sehr freundlich, dass Ihr gekommen seid«, sagte die Frau und nahm das schlaffe Kind in ihre Arme. »Aber jetzt könnt Ihr gehen.«
»Ich bleibe noch«, sagte sie, und Tränen stiegen ihr in die Augen. Es zerriss Arkady das Herz, wie gefasst die Frau den bevorstehenden Tod ihres Kindes hinnahm. »Falls es niemandem etwas ausmacht.«
Die Frau sah sie eine Weile an und gab schließlich mit einem Nicken ihr Einverständnis. Ihr älterer Sohn schmiegte sich an sie und starrte Arkady mit dunklen verständnislosen Augen an. Hinter ihr setzten sich die anderen Chamäliden nach und nach hin. Vermutlich waren sie ein Familienverband, der jetzt gemeinsam bei dem sterbenden Kind wachen würde.
Arkady blickte aus dem kleinen Fenster. Der Himmel wurde langsam heller, die Morgendämmerung setzte ein. Sie hockte sich hin, um mit den anderen Wache zu halten. Kurz ging ihr durch den Kopf, dass Cydne jetzt darauf wartete, von ihr sein Frühstück gemacht zu bekommen.
Soll er verhungern, dachte sie. Verdient hätte er es.
Mörder.
29
Die ersten Magenkrämpfe befielen Tiji kurz vor Morgengrauen. Ihr erster Gedanke war, dass sie etwas Schlechtes gegessen hatte, aber noch während sie es dachte, wusste sie, dass es das nicht war. Sie hatte am Vorabend nur Brot und Käse zu sich genommen. Selbst wenn der Käse schlecht gewesen wäre, hätten ihre Beschwerden sich viel früher zeigen müssen.
Nein, Tiji wusste, was es war. Sie verfluchte sich selbst, dass sie dem Dorf nicht ferngeblieben war, wie sie Azquil versprochen hatte, um der Ansteckungsgefahr möglichst aus dem Weg zu gehen. Natürlich hatte sie sich nicht daran gehalten. Im Dorf gab es andere Chamäliden, und Tiji wollte unbedingt mit ihnen sprechen. Sie wollte mehr über ihresgleichen erfahren – über ihre Gebräuche, ihr Leben … und wie es dazu kommen konnte, dass sie in einem Zirkus gelandet war, wo ein Glaebaner namens Declan Hawkes sie als Sklavin gekauft hatte.
Zwar konnten die Chamäliden ihr nicht alle Fragen beantworten, aber sie erzählten ihr mehr, als sie zu hoffen gewagt hatte. Anscheinend wurden die entlegenen Siedlungen in den Sumpfgebieten oft von Sklavenhändlern überfallen. Junge Chamäliden waren besonders begehrt, und auf dem freien Markt ein Vermögen wert. Als sie das erfuhr, fragte sie sich spontan, woher Declan eigentlich das Geld genommen hatte, um sie zu kaufen. Vermutlich kam es von der geheimen Bruderschaft.
Aber das bedeutete zugleich, dass die Bruderschaft von Anfang an etwas mit ihr vorgehabt hatte.
War das dann alles, was Declan in ihr gesehen hatte? Bloß ein weiteres Werkzeug in der Waffenkammer der Bruderschaft, das man vielleicht eines Tages gegen die Gezeitenfürsten einsetzen konnte? Diese Betrachtung erschütterte die Grundfesten ihres Vertrauens zu dem Menschen, den sie bislang für ihren besten Freund gehalten hatte. Je länger sie darüber nachdachte, desto größer wurde ihr Groll auf Declan und die Bruderschaft, und sie haderte mit ihrem bisherigen Leben. Sie stellte fest, dass es sie nicht kümmerte, was aus Arkady geworden war. Von ihr aus konnte die gesamte Bruderschaft getrost verrotten …
Ein weiterer Krampfanfall schüttelte Tiji, und sie krümmte sich. Hatte sie etwa schon Fieber? Sie wusste, dass sie Hilfe brauchte. Aber es schien noch ein wenig zu früh am Tage, um ihren neuen Chamälidenfreunden im Dorf einen Besuch abzustatten, auch wenn Azquil beteuert hatte, dass sie nur zu fragen brauchte, sollte sie Hilfe benötigen.
Glücklicherweise musste sie gar niemanden belästigen. Der Arzt aus Port Traeker war ja immer noch in der Stadt.
Tiji wusste, wo die Behelfsklinik lag, allerdings hatte sie sich bislang tunlichst davon ferngehalten. Ihrer Meinung nach war der sicherste Weg, sich anzustecken, der Kontakt mit anderen Kranken. Nachdem sie sich jedoch längere Zeit vor Schmerzen gekrümmt hatte, weil die Magenkrämpfe ihr so zusetzten, zwang sie sich schließlich, die Hütte zu verlassen und sich ins Dorf zu schleppen. Sie musste ein ums andere Mal eine Pause einlegen, entweder um sich zu übergeben oder um im Unterholz ihren Darm zu entleeren. Sie fühlte sich sterbenselend, aber sie war einigermaßen zuversichtlich, dass sie es bis zur Klinik schaffen
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