Fallon, Jennifer - Gezeitenstern Saga 4 - Der Kristall des Chaos
bringen, eine Bürde, von der er noch nicht wusste, ob er sie schultern konnte.
Falls die Regentschaft mit irgendwelchen Freuden verbunden war, hatte Stellan sie noch nicht entdeckt.
Tillys Haustür öffnete sich, als er darauf zuschritt. Offenbar hatte man schon auf ihn gewartet. Er fröstelte in der kalten Nachtluft, nickte dem Diener an der Tür zu und fragte sich, was aus dem alten Caniden geworden war, der früher für Tilly gearbeitet hatte.
Überhaupt bemerkte Stellan, als der Mann ihn durch das Haus in Tillys Salon führte, keinerlei Anzeichen von Crasii-Dienstboten, was ihm zu denken gab. Tilly war eine große Freundin kreatürlichen Komforts – und zudem eine große Freundin der Kreaturen, die für ihren Komfort sorgten.
Der Diener blieb vor dem Salon stehen, klopfte und öffnete die Tür, ohne eine Antwort abzuwarten. Er trat einen Schritt zurück, um Stellan durchzulassen, und schloss die Tür hinter ihm. Tilly saß in einem großen Lehnsessel am lodernden Kaminfeuer, eine gestrickte warme Stola um die Schultern und eine karierte Decke über den Knien. Ihr Haar war irgendwie rötlich und stumpf, und zum ersten Mal, seit Stellan sie kannte, sah sie alt aus.
»Ich war mir nicht sicher, ob Ihr meiner Aufforderung nachkommen würdet«, sagte sie und hielt ihm die Hand entgegen.
Stellan durchquerte den Raum, ergriff ihre Hand und küsste sie lächelnd. »Wer sonst im ganzen Land würde es wagen, so forsch den König einzubestellen, Mylady?«
»Ihr musstet nicht kommen, wie Ihr wohl wisst«, sagte sie und wies auf den Sessel gegenüber. »Ihr hättet mich auch zu Euch befehlen können.«
Stellan ließ sich immer noch lächelnd nieder. »Wie hätte ich Eure Einladung abschlagen können? Darin hieß es, es sei wichtig.«
»Ach, und Ihr wollt mir weismachen, diese Phrase habt Ihr in den letzten Wochen nicht an die tausend Mal gehört?«
Stellan machte es sich in dem behaglichen Sessel bequem und entspannte sich ein wenig, zum ersten Mal seit Wochen. »Wichtig ist in letzter Zeit ein relativer Begriff geworden. Euch halte ich für wichtig, Tilly. Also bin ich hier.«
Die alte Dame kniff die Augen zusammen. »Früher hieltet Ihr mich nicht für so wichtig, Euer Majestät. Was hat diesen Sinneswandel bewirkt?«
Stellan zögerte kurz, dann zuckte er die Achseln und sagte: »Ein Unsterblicher namens Declan Hawkes.«
Tilly sah nicht überrascht aus. Sie musterte ihn ein Weilchen im Feuerschein, als müsse sie etwas mit sich ausmachen. »Wie viel wisst Ihr?«
»Mehr, als ich je wissen wollte«, antwortete Stellan freimütig.
Tilly schenkte ihm ein dünnes Lächeln. »Könntet Ihr Euch etwas genauer ausdrücken?«
»Ich weiß, wer die Unsterblichen sind, wenn Ihr das meint. Ich weiß von der geheimen Bruderschaft und Eurer Führungsrolle darin. Ich maße mir nicht an zu verstehen, was diese Unsterblichen vorhaben, aber ich weiß, wer sie sind. Und ich habe genug gesehen, um zu wissen, dass wir sie sehr, sehr fürchten sollten.«
»Euch ist doch klar, dass sowohl Caelum als auch Glaeba in ihren Händen sind, oder?«, fragte Tilly und musterte ihn forschend.
Stellan nickte. »Ich kann nur hoffen, den Schaden in Grenzen zu halten. Ehrlich gesagt liege ich nachts wach und frage mich, ob ich nun ein Held oder ein Verräter bin.«
»Ich fürchte, auf lange Sicht wird das wenig Unterschied machen. Wenn die Gezeitenfürsten ihrem üblichen Muster folgen, dürfte bald niemand mehr da sein, den man behüten oder verraten könnte.«
Stellan seufzte. »Man sollte nicht meinen, dass Arkady Euch früher immer einlud, um uns aufzuheitern.«
»Sie ist am Leben, wisst Ihr?«
Er war erstaunt und erleichtert, das zu erfahren. Und verwundert, woher Tilly über das Schicksal seiner Gemahlin informiert war. »Wie kommt Ihr denn an Nachrichten über Arkady?«
»Declan hat es mir erzählt.«
»Dann habt Ihr ihn also nach der Schlacht gesehen?« Es überraschte ihn, dass Tilly die Sache mit Hawkes so ruhig hinnahm. Als Hüterin der heiligen Überlieferung musste die Kunde, dass einer ihrer erklärten Favoriten praktisch die Seiten gewechselt hatte, sie hart getroffen haben.
Doch Tilly schien es mit Fassung zu tragen, sie wirkte geradezu fatalistisch. Die alte Dame lächelte matt. »Es liegt doch eine gewisse poetische Ironie darin, herauszufinden, dass der eigene Erbe der Spross des Feindes ist, meint Ihr nicht?«
»Poetische Ironie?« Stellan hob irritiert eine Augenbraue. »Mir würden da andere, weniger gesittete
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