Fallon, Jennifer - Gezeitenstern Saga 4 - Der Kristall des Chaos
Öffnung zwischen ihnen gar keine Öffnung mehr war. Jetzt war da eine Barriere – eine dünne Eiswand, die mit jedem Augenblick dicker wurde. Schlagartig wurde ihr klar, warum Taryx hier war, der Meister im Manipulieren von Wasser und Eis. Tiji warf sich mit aller Kraft gegen die Wand, die vor ihren Augen dicker und weißer wurde. Doch inzwischen war sie massiv, und Tiji prallte so hart von ihr ab, dass sie sich schmerzhaft die Schulter prellte.
»Nein!«, schrie sie auf und hämmerte gegen die Eiswand, die jetzt so rasch dicker wurde, dass sie die Unsterblichen auf der anderen Seite nicht mal mehr sehen konnte. »Niemand wird glauben, dass ich einfach abgehauen bin! Sie werden wissen, dass Ihr mir was angetan habt!«
Von den Unsterblichen kam keine Antwort. Mit einem Wutschrei sank Tiji zu Boden, und dann erkannte sie, wie vergeblich ihre Drohung war. Ihre eigenen Worte hallten in dem versiegelten Raum wider und verhöhnten sie.
Niemand wird glauben, dass ich einfach abgehauen bin.
Aber genau das hatte sie Azquil angedroht.
Verzweifelt sah Tiji sich um. Sie war vollständig eingeschlossen, und sofern sich die Gezeitenfürsten nicht entschieden, sie zu befreien, würde sie entweder ersticken, verhungern oder erfrieren. Lange, bevor oben irgendwem auffiel, dass sie verschwunden war.
46
Stellan schob den Vorhang ein Stück zur Seite und blickte durch das Fenster der Kutsche hinaus auf die schneebedeckte Stadt Herino, froh über die Dunkelheit. Eis knirschte unter den Rädern, als sie durch die Straßen der Stadt rollten. Um diese späte Stunde waren kaum Leute unterwegs, sodass ihr Gefährt nicht weiter auffiel. Es wies aber auch nichts an der Kutsche darauf hin, dass sie einem König gehörte, wofür er höchst dankbar war. Stellan verspürte wahrlich kein Verlangen danach, mit diesem Ausflug Aufsehen zu erregen.
Er ließ den dunklen Vorhang an seinen Platz zurückgleiten und zog seinen Mantel etwas fester zu. Am Hofe sprachen die Optimisten schon hoffnungsvoll vom kommenden Frühling. Stellan hatte davon noch keine Anzeichen bemerkt.
Zugegeben, das Wetter hatte sich gebessert, seit mitten in der Schlacht die massive Eisdecke auseinandergebrochen war und dem glaebischen Einmarsch in Caelum damit ein jähes Ende gesetzt hatte. Aber an dem Tag, an dem Stellan Desean den jungen Mathu Debree heimbrachte, war es noch eiskalt, neblig und kurz gesagt widerwärtig gewesen.
Die Erinnerung schmerzte Stellan mehr, als er in Worten ausdrücken konnte. Die Caelaner hatten die Leiche des jungen Königs einbalsamiert und seinem Rang entsprechend eingekleidet für die Überführung über den See – was mehr Respekt bewies, als er vermutlich verdient hatte. Und es milderte auch nicht die Tragödie, dass sein Leben so früh und sinnlos geendet hatte.
Dennoch hatte Mathu auf seine eigene seltsame Art eine gewisse Form der Unsterblichkeit erreicht, wie Stellan klar wurde.
Er wird nie alt werden. Niemals die zerstörerische Macht der Zeit erfahren, das war ihm durch den Kopf gegangen, als er die Crasii überwachte, die den Leichnam des Königs für die Zeremonie aufbahrten. Vor dem Palast von Herino standen schon die Trauernden im eisigen Wind.
Andererseits starb er auf dem Feldzug gegen ein Land , das Glaeba einst zu seinen engsten Verbündeten zählte, setzte Stellan in Gedanken hinzu und lehnte sich ein wenig nach links, um die Bewegung der Kutsche auszugleichen, als sie in eine Rechtskurve schwenkte. Doch mit dem drohenden Schemen unsterblicher Weltherrschaft am Horizont würde Mathus Torheit ja vielleicht eine unwesentliche Fußnote der Geschichte bleiben.
Eine allzu schnell verblassende Fußnote, dachte Stellan mit einiger Bitterkeit. Seit er als Glaebas König nach Herino zurückgekehrt war, hatte er kaum Zeit zum Nachdenken gefunden, schon gar nicht über Mathus Vermächtnis. Mit einem Ruck hielt die Kutsche und nötigte Stellan, seine Aufmerksamkeit auf aktuellere Belange zu richten. Das Begräbnis war seit Wochen vorbei und gelaufen, und das Leben im Land ging weiter.
Gleich darauf öffnete sich die Tür und der Canide, der ihn kutschiert hatte, klappte das Treppchen aus, damit der neue König von Glaeba aussteigen konnte.
Stellan hatte sich noch nicht an den Gedanken gewöhnt, dass er König von Glaeba war. Zu tragisch waren die Umstände, die ihm dies eingetragen hatten, als dass er Vergnügen an seinem neuen Titel hätte empfinden können. Er schien ihm nichts als endlose Verantwortung mit sich zu
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