Fallon, Jennifer - Gezeitenstern Saga 4 - Der Kristall des Chaos
»Keine gute Idee, eine Gezeitenwelle anzurühren und damit in bevölkerte Gebiete einzureiten, wenn du unauffällig bleiben willst, Ratz.«
Es rumpelte, als ein weiterer Eisberg von der Küste abbrach und tief unten auf dem Wasser aufschlug. Kentravyon räusperte sich. »Kommt ihr jetzt, oder wollt ihr noch die schöne Aussicht genießen?«
Cayal bedurfte keiner weiteren Aufforderung. Er hockte sich Kentravyon gegenüber auf den Teppich, kreuzte die Beine in ähnlicher Weise und sah Declan an, während er seinen Seesack hinter sich schob, sodass er sich daran anlehnen konnte. »Aufsteigen oder schwimmen, Ratz.«
Ein wenig beklommen trat Declan vor und ließ sein Bündel auf den Teppich fallen. Einerseits war er fasziniert von dieser Transportmethode, andererseits wurde er den Verdacht nicht los, dass die beiden sich auf seine Kosten prächtig amüsierten. War dies ein großer Witz, ein Streich, der ihn bis in die Ewigkeit verfolgen würde? Würde man noch Äonen über ihn lachen – den frisch gebackenen, naiven Gezeitenfürsten, der auf das Märchen vom fliegenden Teppich hereingefallen war? Voller Unbehagen ließ er sich Cayal und Kentravyon gegenüber im Schneidersitz nieder.
»Was jetzt?«
»Festhalten«, sagte Kentravyon.
Noch ehe er es ausgesprochen hatte, wurde Declan umgeworfen. Er fühlte die Gezeiten aufwallen, als der Teppich über das Eis schoss, direkt auf die Klippenkante zu und darüber hinaus, um sich den kalten Fluten entgegenzustürzen. Declan musste an sich halten, um nicht aufzuschreien – seine Sinne waren einfach noch nicht daran gewöhnt, dass er unsterblich und in keiner wirklichen Gefahr war. Cayal und Kentravyon grinsten ihn breit an, als sie auf die Meeresoberfläche zusausten, entweder berauscht vom Fall oder belustigt von Declans Reaktion – er wusste es nicht, und es war ihm auch völlig egal.
Der Ozean raste auf sie zu, er war hier so tief, dass das Wasser völlig schwarz wirkte, als ob es das Zwielicht aufsaugte. Im allerletzten Augenblick, direkt vor der Wasseroberfläche, balancierte sich der Teppich waagerecht aus und verfehlte dabei nur um Haaresbreite einen Eisbrocken von der Größe eines Hauses. Irgendwie blieben sie über der Wasseroberfläche, wichen Eisbergen aus und schössen über die Schaumkronen, als wäre der Ozean aus Glas und der Teppich eine Platte aus poliertem Metall, die rasant über die Wellen schlitterte.
Ein weiteres Wunder war, dass Declan nicht über Bord ging. Die eisige Gischt der Wellen prallte kurz vor ihnen an eine unsichtbare Wand und spritzte weg, bevor sie sie benetzen konnte. Seine Haut kribbelte heftig, eine Reaktion auf die unmittelbare Nähe zu Kentravyon, der die Gezeiten lenkte. Anscheinend erzeugte der Gezeitenfürst nebenbei noch ein Schutzschild vor der Gischt, während er den Teppich in halsbrecherischem Tempo über das Wasser trieb.
Binnen Kurzem waren die riesigen bröckelnden Eisberge von Jelidien nur noch ein ferner Strich am Horizont. Der Teppich blieb flach und vollkommen trocken, und bald streckte sich Cayal aus und benutzte seinen Seesack als Kopfkissen. »Weck mich, wenn du eine Pause brauchst«, sagte er zu Kentravyon, dann verschränkte er die Arme vor der Brust und schloss die Augen. Unter ihnen raste lautlos der Ozean dahin, aber kein Windhauch erreichte die drei Gezeitenfürsten auf ihrem magisch angetriebenen Teppich.
Der Irre nickte zufrieden und sah Declan schräg an. »Was ist?«
»Nichts. Ich hab nur nicht erwartet – also …«
»Gezeiten, du dachtest doch nicht ernsthaft, dass ich das Ding zum Fliegen bringe, oder?«
»Natürlich nicht.«
Kentravyon grinste und beugte sich ein wenig vor. »Willst du wissen, wie mans macht?«
»Ja, gern.«
»Dann mach’s wie wir anderen auch«, sagte er barsch. »Krieg es selbst raus.«
Declan verzog das Gesicht, aber eigentlich sollte er nicht überrascht sein. Schließlich war Kentravyon nicht gerade für seine soziale Kompetenz berühmt. »Kann Cayal das auch?«
»Das behauptet er«, sagte Kentravyon mit einem Achselzucken. »Wahrscheinlich nicht so gut wie ich. Niemand ist je so vollkommen wie Gott.«
Wenn er nicht gerade solche Sprüche absonderte, konnte man leicht vergessen, dass Kentravyon verrückt war. Da hatte Declan noch so seine Zweifel. Wahrscheinlich hing es letztlich davon ab, wie man verrückt definierte. Muss ein Mann sabbern und unverständliches Zeug brabbeln, damit man ihn als Irren bezeichnen kann? Oder reicht es, dass er sich allen Ernstes
Weitere Kostenlose Bücher