Falsch
dem studierten Neurologen, Psychologen und Psychiater, der mit seinen Forschungsergebnissen jedes Jahr die Fachwelt verblüffte, hätte die Schule keinen besseren Griff machen können. War Grasset auch viele Wochen im Jahr unterwegs, um auf hochkarätig besetzten Konferenzen zu sprechen oder an interdisziplinären Universitätsprojekten teilzunehmen, so galt seine ganze Liebe und Hingabe dem Institut in St. Chrischona und den Schülern. Sein Fachwissen, sein einfühlsamer Umgang mit den behinderten Kindern und seine scharfsichtige Beobachtungsgabe beeindruckten alle Lehrer und Betreuer jeden Tag aufs Neue.
»Darf ich mich zu Ihnen setzen, Frau Kollegin?«, lächelte Grasset und wies auf den leeren Platz neben Bernadette. »Oder störe ich Sie? Dann sagen Sie es nur.«
»Nein, nein, keineswegs, Professor. Ich speichere die Sonnenstrahlen für die nebligen Winterabende und habe mir überlegt, wo ich meine kommenden freien Tage verbringen könnte.« Sie zeigte Grasset die Fotos von Rosheim.
»Ich beneide Sie«, erwiderte der Direktor, »ein wunderschöner Platz für einen Kurzurlaub. Und der Wein …« Er schnalzte mit der Zunge. »Essen Sie eine Tarte Flambée, einen Elsässer Flammkuchen, trinken Sie dazu einen Crémant, den lokalen Sekt, und genießen Sie das Leben.« Er zwinkerte Bernadette zu. »Wie Gott in Frankreich.«
Grasset blickte über den Schulhof und lehnte sich zurück. »Wie Sie vielleicht erfahren haben, fliege ich morgen nach New York zu einem internationalen Kongress zum Thema Savant-Syndrom. Inselbegabung, ein faszinierendes Gebiet, in das wir uns erst hineintasten. Sie wissen, wovon ich spreche?«
»Nur in groben Zügen«, gab Bernadette zu.
»Nun, es ist ein Phänomen, das meist bei behinderten Menschen auftritt und meist bei männlichen. Savants vollbringen unglaubliche Gedächtnisleistungen in einem scharf umrissenen Gebiet, einem kleinen Teilbereich, während sie an den meisten alltäglichen Dingen, die wir wie nebenher erledigen, kläglich scheitern.«
»Autisten?«, fragte Bernadette.
»Nein, so einfach ist es nicht«, antwortete Grasset. »Kaum die Hälfte der Savants sind Autisten. Einer meiner Kollegen, Darold Treffert, machte vor zwanzig Jahren den Vorschlag, die Savants in erstaunliche und talentierte Savants einzuteilen, also in Menschen, die wirklich herausragende Fähigkeiten besitzen, und solche, die höchstens durchschnittliche Leistungen aufweisen.« Der Professor wischte eine Wespe vom Ärmel seines Hemds. »Sie müssen wissen, es gibt nicht den einen Savant, sondern ein breites Spektrum von Inselbegabten mit sehr unterschiedlichen Hirnstörungen und Teilbegabungen, die Unglaubliches vollbringen können.« Er schüttelte den Kopf. »Da gibt es musikalische Savants, die meist blind sind und einmal gehörte Musikstücke fehlerfrei nachspielen können.«
Grasset griff nach dem Buch, das in Bernadettes Schoß lag. »Oder nehmen Sie jene Savants, die zwei Seiten gleichzeitig lesen können, die linke mit dem einen und die rechte mit dem anderen Auge. Sie merken sich Zehntausende Bücher auswendig, vom Titel bis zu allen Fußnoten, nach nur einem Mal lesen. Unter den Savants finden sich mathematische Begabungen, die jene Zahl Pi, die wir alle in der Schule gelernt haben, bis auf 22514 Stellen nach dem Komma aus der Erinnerung wiedergeben können. Dazu kommt, dass es nicht viele dieser erstaunlichen Savants gibt. Zurzeit kennt die Wissenschaft weltweit nur etwa fünfzig Menschen, die solche unfassbaren Dinge vollbringen und sich trotzdem nicht die Schuhe zubinden können.«
»Faszinierend«, staunte Bernadette. »Und was ist der Auslöser für diese Begabungen?«
»Es gibt mehrere Theorien, aber wenn ich ehrlich sein soll, Genaues weiß man nicht«, antwortete Grasset nachdenklich. »Und das wird auch eines der Themen der Konferenz in New York sein. Die Gabe kann angeboren sein oder aufgrund einer späteren Hirnschädigung auftreten. Da gibt es zahlreiche Beispiele. Von einem Baseball, der einen Zehnjährigen am Kopf traf, bis zu einem epileptischen Anfall oder einer Verletzung der linken Hirnhälfte, die ihren Gegenpart, die rechte Hirnhälfte, zu außergewöhnlicher Aktivität anregte.«
Er zuckte mit den Schultern und schaute die junge Frau ernst an. »Manche Forscher behaupten, dass eine Isolationshaft über längere Zeit zum Savant-Syndrom führen könne. Es gibt allerdings auch Theorien, die Hirnströme verantwortlich machen. Aber das geht nun zu weit«, wehrte er ab
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