Falsch
linken Ärmel zurück!«, befahl der Unbekannte wie selbstverständlich und ließ den Pass auf den Tisch fallen. »Ich will mich davon überzeugen.«
Mit drei Schritten stand er neben den jungen Männern. Als er bei keinem eine Blutgruppentätowierung am linken inneren Oberarm finden konnte, kehrte er zufrieden wieder an seinen Platz zurück.
»Gut«, sagte er wie zu sich selbst, dann wies er auf die Pässe und wandte sich an den Kommandanten. »Bitte stempeln und damit die Einreise validieren.«
Mit unbewegtem Gesicht hämmerte der Uniformierte den Einreisestempel jeweils auf die fünfte Seite.
»Sie können sie wieder einstecken«, meinte der Mann im Mantel dann, während er sich mit der linken Hand über die Narben strich. »Die Verhandlungen über die Kapitulation laufen in der Tat bereits in Bern, zwischen Dulles und Wolff, und je schneller Sie die Kisten in eine Züricher Bank bringen, umso schneller wird Kesselring zustimmen und unterzeichnen.«
Er schien mit sich zu kämpfen, wollte offenbar noch etwas sagen, sah die vier an und schrie dann plötzlich: »Na los, fahren Sie schon! Verschwinden Sie!«
Franz, Klaus, Paul und Willi zuckten zusammen und sahen sich verwirrt an. Dann drehten sie sich um und eilten zur Tür.
»Halt!« Die Stimme in ihrem Rücken stoppte sie unvermittelt. »Wissen Sie, was das Sechsgestirn ist?«
War das eine Falle?
Die vier Freunde warfen sich fragende Blicke zu.
Die Stille im Raum wurde nur von einer Fliege unterbrochen, die immer wieder gegen das Fenster flog.
Der Mann im Mantel wartete auf eine Antwort.
»Lassen Sie uns allein«, sagte er schließlich.
Der Kommandant erhob sich wortlos, salutierte und verließ den Raum.
»Sehen Sie, in diesem Krieg ist nicht alles schwarzweiß, ganz im Gegenteil«, begann der Unbekannte, als die Tür sich hinter dem Postenchef geschlossen hatte. »Je länger er dauert, je verzweifelter die Deutschen werden, desto öfter gibt es Sonderregelungen, Absprachen, Verhandlungen. Es wimmelt nur so von Winkelzügen, von Rückversicherungen und Ausflüchten, von Nebenabkommen und Schleichwegen. Ich habe Ihre Befehle gelesen, und ehrlich gesagt interessiert es mich nicht, ob Sie Claessen umgebracht haben oder ob er tatsächlich bei einem Autounfall ums Leben kam.«
Willi wollte etwas sagen, doch der Unbekannte brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen.
»Wenn er es bis zu diesem Grenzübergang geschafft hätte, dann wäre sein Weg hier zu Ende gewesen. Ich hätte ihn erschossen und in den Rhein geworfen.« Seine Augen leuchteten gefährlich. »Ich habe auf ihn gewartet. Er war eine miese Ratte, unmoralisch durch und durch. Er ging über Leichen. Deswegen hat ihn Hitler geheuert.«
Der Mann griff in eine Schublade, zog eine Fotografie hervor und legte sie vor den vier Freunden auf den Tisch. »Wir reden vom selben Mann? Heinz Claessen …?«
Alle nickten stumm. Das Foto zeigte einen frischen und optimistischen, ein wenig hochmütig dreinschauenden Heinz Claessen in seiner SS -Uniform der Leibstandarte Adolf Hitler. Auf dem Bild befand sich eine fast unleserliche Widmung.
Willi räusperte sich. »Das ist der Mann, den wir tot im Wagen gefunden haben. Er trug allerdings keine Uniform.«
»Gut, ein Problem weniger. Jetzt zu dem Sechsgestirn.« Der Unbekannte mit der Narbe trat ans Fenster und schaute über die Felder. »Die Nazis bauen für die Zeit danach vor«, sagte er wie zu sich selbst, »für eine Zukunft, die es nicht geben dürfte. Aber es wird sie geben, und die alten Seilschaften richten sich bereits häuslich ein. Sie kriechen aus ihren Löchern und übersiedeln. Sich, ihre Freunde, ihre Organisationen. ›Operation Sechsgestirn‹, ein anderer Begriff für den Sternenhaufen der Plejaden. Sieben Sterne sind es, aber nur sechs davon sieht man. Bezeichnend, nicht wahr? Fluchtlinien und Versorgungsstellen, Ausreisehäfen und Zielländer, Scheinfirmen und Konten in der ganzen Welt, verborgen, effizient und diskret. Befreundete Regimes bereiten alles für eine warmherzige Aufnahme der deutschen Prominenz aus Politik, Wissenschaft und Wirtschaft vor, vom Mittelmeerraum bis nach Südamerika. Die Ratten gehen von Bord und nehmen alles mit, was sie tragen können. Einen Teil davon transportieren Sie da draußen in dem LKW mit dem falschen Kennzeichen.«
»Woher …?«, begann Paul.
»… ich das weiß?«, fragte der Unbekannte spöttisch. »Spielen Sie nie an einem Tisch mit Profis, wenn Sie gerade die Werte der Karten gelernt
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