Falsche Väter - Kriminalroman
Annas Großmutter,
um ein paar Sachen zu holen. Johanna wollte die Zeit nutzen, um in Ruhe ihren
Unterricht vorzubereiten, und Tante Gertrud wollte erst in die Kirche und
danach zu Fuß nach Hause gehen. Normalerweise hatte van de Loo ein mulmiges
Gefühl, wenn sie sich allein auf den Weg machte, aber diesmal setzte er sie vor
der Kirche ab, in der festen Überzeugung, dass sie wieder zurückfinden würde.
Das lag an Anna. Sie schien für Tante Gertrud überaus wichtig zu sein. Soweit
van de Loo es verstanden hatte, fühlte die alte Frau sich durch Anna an eine
Jugendfreundin erinnert, die sie um keinen Preis im Stich lassen würde.
Annas Großmutter wohnte im Zentrum von Geldern, ganz in der Nähe des
Hauses, in dem van de Loo bis vor fünf Jahren gelebt hatte. Gelebt? Im
Nachhinein kam es ihm so vor, als habe er dort nur gehaust. Ohne Johanna wäre
er wahrscheinlich immer noch da und mehr und mehr verlottert. Ohne Johanna,
Tante Gertrud und ihren Hof.
Van de Loo stellte den Volvo ab, und die Mädchen stiegen aus. Er
selbst wollte nicht mitgehen, um nicht den Eindruck eines aufdringlichen
Schnüfflers zu erwecken. Er winkte den beiden nach und ging durch die
Fußgängerzone. Ganz automatisch trieb es ihn zu dem Haus, in dem er früher
gewohnt hatte. Er wollte nur einen kurzen Blick auf die Fenster werfen, hinter
denen er nicht besonders glücklich gewesen war.
Das Haus wirkte ziemlich verwahrlost. Viele Platten der hässlichen
Außenverkleidung wiesen Sprünge auf, und man konnte auf jeder Etage deutlich
die Wasserflecken erkennen, die sich unterhalb der Bäder gebildet hatten. Die
Scheiben seiner ehemaligen Wohnung waren nicht geputzt, und die Blumen, die
dahinterstanden, waren in einem erbärmlichen Zustand. Van de Loo ging schnell
weiter. Um auf andere Gedanken zu kommen, kaufte er sich ein Eis, setzte sich
an den Drachenbrunnen und beobachtete die Leute.
Plötzlich spürte er das Bedürfnis, diesem Tag eine besondere Note zu
geben. Ganz gegen seine Gewohnheit kaufte er einen großen Strauß Blumen, dann
ging er zum Auto zurück.
Der Kofferraum war schon beladen. Anna und Katharina standen auf dem
Bürgersteig und winkten zu einem der Fenster hinauf. Für Augenblicke sah van de
Loo Annas Oma. Sie hatte langes graues Haar, ein beängstigend schmales Gesicht
und schlechte Zähne. Ihre Gestalt erinnerte ihn an Wolfgang Neuss.
»Warum grinst du?«, fragte Katharina.
»Nur so«, sagte van de Loo. Die Mädchen waren zu jung, um Wolfgang
Neuss zu kennen. Und wenn sie ihn zufällig doch kannten, hätte Anna den
Vergleich mit dem alten Kiffer bestimmt als Beleidigung aufgefasst.
»Ist das die Mutter deines Vaters?«, fragte van de Loo, nachdem sie
eingestiegen waren.
»Nein«, sagte Anna knapp. »Das ist Mamas Mutter.«
»Und was ist mit deinem Vater?«
»Den kenne ich nicht. Mama hat immer gesagt, dass es so besser ist.
Er hat sie oft geschlagen, und um mich hat er sich nie gekümmert. Für den
existiere ich anscheinend überhaupt nicht.«
Van de Loo schaute in den Rückspiegel. Er sah zwei Mädchen, die
beinahe erwachsen waren. Beide waren ohne richtigen Vater aufgewachsen. Waren
sie deshalb so schnell Freundinnen geworden?
DREI
21.25 Uhr. Im Autoradio wird der Sommerhit des Jahres
gespielt. Die Männer grölen mit, soweit sie dazu noch in der Lage sind. Nur der
Fahrer schweigt verbissen. In diesem Augenblick schlüpft der Junge zwischen
zwei geparkten Autos hindurch auf die Straße.
Am frühen Montagmorgen saß Hubert Moelderings in der Küche, die
Jutta ausgesucht hatte, kurz nachdem sie eingezogen waren. Nach ihrem Auszug
hatte sie sich eine neue Küche gekauft und ihm die alte großzügigerweise
überlassen. Die anderen Möbel, die ihr gehörten, hatte sie mitgenommen.
Außer Moelderings war kein Mensch im Haus. Er mochte das nicht. Er
hielt das Alleinsein nicht gut aus. Es kam ihm vor, als habe man ihn auf einer
einsamen Insel ausgesetzt. Strafversetzung natürlich! Auf dem Tisch lag die
aufgeschlagene Tageszeitung, im Hintergrund brodelte die Kaffeemaschine. Er
hatte den Artikel über den Mord in der Hütte nicht zu Ende lesen können. Zu
viele wirre Gedanken kreisten in seinem Kopf und veranstalteten ein ziemliches
Durcheinander.
Er stand auf, trat ans Fenster und schaute auf den Hofplatz, der wie
ausgestorben dalag. Der Misthaufen dampfte, aber die Hühner waren nicht da.
Niemand war da. Die Mädchen, die seine Ehe zerstört hatten, waren noch in der
Schule. Und Alfons, der mundfaule
Weitere Kostenlose Bücher