Falsches Spiel mit Hannah
Mäppchen, das zwischen ihnen auf dem Tisch lag. Eine Ecke des Umschlags lugte hervor. Und immer wenn Myriam einen Stift herauszog oder zurückschob, konnte man die unordentliche Jungenhandschrift auf dem Kuvert sehen. âFür Myriamâ, las Hannah. Und links oben, da wo sich bei richtigen Briefen der Absender befand, stand nur ein einzelner Buchstabe. âH.â
H. H wie Hannes.
So ein Quatsch, dachte Hannah. Es gab Hunderte von Jungennamen, die mit einem H begannen. Heiner, Hilmar, Harald, Hugo. Nur dass Hannah niemanden kannte, der so hieÃ. Und Myriam wahrscheinlich auch nicht.
Vielleicht hatte ja auch ein Mädchen den Brief geschrieben. Helen. In letzter Zeit verstand sich Myriam doch so gut mit ihr.
Aber warum sollte Helen Myriam einen Brief schreiben, wenn sie ihr den Inhalt genauso gut erzählen konnte? Myriam und sie saÃen doch sogar meistens nebeneinander.
Es war unerträglich. Hannah musste unbedingt wissen, wer diesen Brief geschrieben hatte. Sie musste ihn haben.
Doch während sie noch darüber nachdachte, wie sie den Umschlag an sich bringen konnte, schloss Myriam das Mäppchen und steckte es in ihren Rucksack. Hannah hatte ihre Chance verpasst. In den nächsten Stunden würden sie nicht mehr nebeneinandersitzen.
Zu dumm, dachte Hannah.
âIch muss mal aufs Kloâ, sagte Myriam. âKannst du meine Tasche mit ins Klassenzimmer nehmen?â
Wow! Das waren mindestens zehn Worte gewesen, so viel hatten sie in den ganzen letzten Wochen nicht miteinander geredet. Und es war die perfekte Gelegenheit für Hannah, den Brief an sich zu bringen.
âKlar mach ich dasâ, sagte Hannah.
Myriam benutzte die Toilette im ersten Stock, gleich neben dem Biosaal, also ging Hannah nach unten ins Erdgeschoss.
Sie schloss sich in eine der Kabinen ein, zog das Mäppchen aus Myriams Rucksack und den Brief aus dem Kuvert und las:
âLiebe Myriam,
ich muss auch ständig an dich denken. Mach dir keine Sorgen wegen Sonntag! Wenn eine Reiterin den ersten Platz im Trail verdient hat, dann bist das du. Hannah hab ich öfter beim Training zugesehen, sie baut in letzter Zeit echt ab. Mit manchen Ãbungen hat sie groÃe Schwierigkeiten und ihre Gesamthaltung ist so na ja. Aber wir wussten ja beide von Anfang an, dass sie keine echte Gefahr für dich ist. Du wirst es als Westernreiterin noch weit bringen, da bin ich mir ganz sicher.
Sehen wir uns heute Nachmittag wieder bei Alberto? Ich freu mich schon auf dich.
⺠Hannes.â
Das Blut rauschte in Hannahs Ohren, lauter als jede Toilettenspülung.
Einen Moment lang überlegte sie, ob sie Hannesâ Brief einfach zusammenknüllen und ins Klo werfen sollte. Abziehen und weg damit.
Aber dann faltete sie das Blatt wieder zusammen, steckte es in den Umschlag und schob ihn zurück in Myriams Mäppchen. Myriam sollte nicht merken, dass Hannah den Brief gelesen hatte. Diesen Triumph würde sie ihr nicht gönnen.
Morgen wird alles gut, hatte Hannes gestern noch zu Hannah gesagt. Du musst an dich glauben, dann gewinnst du auch. Und nun das. Ein Liebesbrief an Myriam. Wie ein Dolch, den er Hannah von hinten in den Rücken rammte.
Warum hatte Hannes sie gestern angesimst? Warum bloà hatte er so getan, als ob er ihr helfen wollte?
Er will mich reinlegen, dachte Hannah bitter. Er wollte heute mit mir in den Roundpen, um mir falsche Tipps zu geben und mich vollkommen zu verunsichern. Damit sein Schatz Myriam gewinnt und ich verliere.
âDu wirst es als Westernreiterin noch weit bringenâ, hatte er Myriam geschrieben. Und zu Hannah hatte er gesagt, dass er es grandios fände, wenn sie die Turnierreiterei an den Nagel hängen würde.
Das war so mies, so gemein, so scheuÃlich.
Hannah wartete darauf, dass sich die Trauer und die Verletztheit in Wut verwandelten, die sie stark machten. Sie musste Myriam zeigen, was in ihr steckte, und Hannes erst recht. Das war die einzig vernünftige Reaktion auf diesen Verrat.
Aber sie wurde nicht wütend.
Sie fühlte sich einfach nur elend.
Nach Schulschluss erwartete Hannes sie schon bei den Fahrradständern.
âHi!â, begrüÃte er Hannah freudig. âUnd? Konntest du gestern noch einschlafen oder bist du die ganze Nacht wach geblieben?â
So ein Heuchler!
âUnd du?â, gab sie genauso freundlich zurück.
âIch hab prima geschlafenâ, erklärte er.
âUnd? Von wem hast du
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