Familienbande
Toilette etwas umgestoßen. Lilianas Blick schoss in die betreffende Richtung und sie schlich auf die Tür zu. Laneys Herzschlag erhöhte sich rasant. Ihr Instinkt sagte ihr, dass Liliana mehr vorhatte, als die Tür nur zu verschließen, aber sie konnte sich nicht von der Stelle bewegen. Der Mann aus Zimmer zwölf war alt. Er hatte wahrscheinlich aus lauter Tatterigkeit sein Tablett heruntergeworfen. Er sprach zwar nicht viel, aber wenn er sprach, dann war er meistens freundlich. Laney wusste, dass er drei Kinder und mehrere Enkelkinder hatte, die ihn regelmäßig besuchten. In Laneys Innerem kämpfte der Wunsch ihre Patienten zu beschützen gegen ihren Selbsterhaltungstrieb an. Sie sah Liliana in dem Zimmer verschwinden, ein unheilvolles Lächeln auf den Lippen, aber sie bewegte sich nicht von der Stelle. Dann hörte sie plötzlich ein Geräusch aus Zimmer vier.
Ohne lange darüber nachzudenken, sprang sie zu dem Raum hinüber, der bisher noch nicht verschlossen war. Sie öffnete die Tür und schloss sie sofort wieder hinter sich. In der Dunkelheit konnte sie die alte Dame erkennen, die sie im Laufe der Zeit ins Herz geschlossen hatte. Sie stand neben ihrem Bett und hatte ganz offensichtlich vorgehabt auf die Tür zuzugehen. Sie ging oft nachts spazieren, weil sie nicht schlafen konnte.
Mit einem Satz war Laney bei ihr und hielt ihr den Mund zu, bevor sie auch nur ein Wort sagen konnte. Die Señora sah sie schockiert an, aber Laney schüttelte nur den Kopf und setzte sich mit ihr zusammen auf das Bett. In ihren Augen schimmerten Tränen und sie zitterte am ganzen Körper.
„Was ist da draußen los, Samantha?“, flüsterte sie, als die jüngere Frau ihren Mund wieder frei gab. Laney war sich sicher, dass sie nicht schreien würde.
„Nichts Gutes, Señora.“
Die Señora nickte und ihr liefen ein paar Tränen die Wangen hinunter.
„Also sind sie doch gekommen, nicht wahr?“, fragte sie. „Ich wusste, dass nach jedem Engel auch ein Dämon auftaucht, also hatte ich es schon fast erwartet.“
Es dauerte eine Weile, bis Laney bemerkte, dass die Dame sie selbst mit dem Engel gemeint hatte. Sie musste gespürt haben, dass draußen dunkle Geschöpfe herumliefen, obwohl sie von hier drinnen nichts sehen konnte. Sie hatte schon immer einen äußerst empfindlichen Sinn für das Übersinnliche gehabt. Ihr Aberglaube sensibilisierte sie dafür.
Mitfühlend wischte Laney der Señora ihre Tränen ab.
„Haben Sie keine Angst, Señora“, sagte sie ruhig. „Die werden Ihnen nichts tun. Sie sind nur auf der Durchreise.“
„Werden Sie mit ihnen gehen?“
Laney stutzte. Auf so einen absurden Gedanken war sie noch gar nicht gekommen.
„Nicht, wenn es sich vermeiden lässt“, antwortete sie schließlich. Wer wusste schon, wie diese Vampire reagieren würden, falls sie sie wirklich entdeckten?
„Sie sind ein guter Mensch, Samantha“, versicherte die Señora. „Vergessen Sie das nie.“
Laney nickte, weil sie nicht wusste, was sie sonst tun sollte. Sie war kein Mensch und würde auch nie einer sein. So sehr sie auch versucht hatte sich anzupassen, im Endeffekt konnte sie nicht ändern, was sie war. Ein Vampir. Und eine Enkelin der Ältesten. Auserwählt, die nächste Vertreterin von Marlene zu sein. Sie hatte versucht davor davonzulaufen, aber am heutigen Tag hatten ihre Wurzeln sie wieder eingeholt.
Während Laney noch mit der Señora auf dem Bett saß, hörten sie plötzlich beide, wie von außen das Zimmer abgeschlossen wurde. Beide zuckten zusammen, aber das Geräusch hörte auf und nichts weiter geschah.
„Gehen Sie nicht, Dr. Sam“, bat die Señora und drückte Laneys Hände. „Die werden Sie umbringen.“
„Ich muss, Señora. Ich muss dafür sorgen, dass die wieder verschwinden. Sie müssen mir versprechen, dass Sie sich ganz ruhig verhalten werden. Solange Sie hier drin sind, wird Ihnen nichts geschehen. Machen Sie sich um mich keine Sorgen. Ich kann gut auf mich aufpassen. Ich kenne mich mit dieser Art von Personen bestens aus.“
„Möge Gott mit Ihnen sein“, sagte die Señora, als sie bemerkte, dass es sinnlos war mit Laney zu diskutieren. „Danke für alles, was Sie für mich getan haben.“
Laney merkte, dass die alte Dame ganz offensichtlich davon ausging, sie nicht wieder zu sehen. Aber sie hatte keine Zeit mehr sich um die Señora zu kümmern.
Sie trat zur Tür und lauschte. Als sie sich überzeugt hatte, dass draußen niemand mehr war, tastete sie nach ihrem Schlüssel, um das
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