Familienbande
ich habe mir allergrößte Mühe gegeben«, sagte Mr. Flawse. »Die Sache ist im Gange und ...«
»Es wäre besser, wenn sie schon hier eingetroffen wäre«, entgegnete Mrs. Flawse, die ihre Redeweise der ihres Mannes angepaßt hatte. »Ich meine es ernst. Mr. Bullstrode, der Anwalt, muß ein Testament zu meinen Gunsten aufsetzen, oder ich breche meine Zelte hier ab und kehre dorthin zurück, wo man meine Anwesenheit zu schätzen weiß.«
»Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg«, sagte der Alte, wobei er über die möglichen Interpretationen dieser Sentenz nachsann und an Schopenhauer dachte. »Wie der große Carlyle sagte ...«
»Das ist auch so ein Punkt. Keine Predigten mehr. Ich habe soviel von Mr. Carlyle gehört, daß es mir bis ans Lebensende reicht. Möglich, daß er so bedeutend war, wie du sagst, aber genug ist genug, und ich habe von Helden und Heldenverehrung die Nase gestrichen voll.«
»Ist das dein letztes Wort?« erkundigte sich Mr. Flawse hoffnungsvoll. »Ja«, sagte Mrs. Flawse, sich dadurch Lügen strafend. »Ich habe deine Gesellschaft und die Unannehmlichkeiten dieses
Hauses lange genug ertragen. Entweder läßt sich Mr. Bullstrode innerhalb einer Woche blicken, oder ich werde mich entfernen.«
»Mr. Bullstrode ist morgen hier«, sagte Mr. Flawse. »Ich gebe dir mein Wort.«
»Das möchte ich hoffen«, sagte Mrs. Flawse, stürmte aus dem Zimmer und ließ den Alten zurück, der bedauerte, ihr je Samuel Smiles Buch über Selbsthilfe empfohlen zu haben.
An demselben Abend wurde Mr. Dodd mit einem versiegelten Umschlag losgeschickt, der das Flawsesche Wappen trug, einen in Wachs auf die Umschlagrückseite gedruckten Moosräuberwimpel. Er enthielt genaue Anweisungen über den Inhalt von Mr. Flawses neuem Testament, und als Mrs. Flawse am nächsten Morgen zum Frühstück nach unten kam, erfuhr sie, daß ihr Mann endlich einmal Wort gehalten hatte.
»Seht selbst, Ma‘am«, sagte Mr. Flawse und reichte ihr Mr. Bullstrodes Antwortschreiben, »er kommt heute nachmittag her, um das Testament aufzusetzen.«
»Das ist auch besser so«, sagte Mrs. Flawse. »Es war mir bitterernst.«
»Und ich meine jedes Wort ernst, das ich sage, Ma‘am. Das Testament wird aufgesetzt, und ich habe Lockhart herbestellt, der bei der Verlesung anwesend sein soll.«
»Ich wüßte nicht, warum er vor deinem Tod anwesend sein sollte«, wandte Mrs. Flawse ein. »Normalerweise wird ein Testament erst danach verlesen.«
»Dieses Testament nicht, Ma‘am«, sagte Mr. Flawse. »Gewarnt sein heißt gewappnet sein, wie es in dem alten Sprichwort heißt. Außerdem muß der Junge die Sporen spüren.«
Er zog sich in sein Allerheiligstes zurück, so daß Mrs. Flawse mit dieser rätselhaften Bemerkung allein blieb; nachmittags traf Mr. Bullstrode an der Brücke über der Schlucht ein und wurde von Mr. Dodd eingelassen. Die nächsten drei Stunden drang Stimmengemurmel aus dem Arbeitszimmer, doch obwohl sie am Schlüsselloch lauschte, bekam Mrs. Flawse von der Unterredung nichts mit. Sie hielt sich wieder im Salon auf, als der Anwalt seine Aufwartung machte, bevor er ging.
»Eine Frage noch, bevor Sie gehen, Mr. Bullstrode«, sagte sie. »Ich hätte gern Ihre Zusicherung, daß ich die Hauptnutznießerin des Testaments meines Mannes bin.«
»Dessen können Sie versichert sein, Mrs. Flawse. Sie sind wirklich die Hauptnutznießerin. Ich möchte sogar weitergehen, gemäß den Klauseln in Mr. Flawses neuem Testament fällt Ihnen bis zu Ihrem Tode sein gesamtes Erbe zu.«
Mrs. Flawse seufzte erleichtert auf. Es war eine anstrengende Schlacht gewesen, aber die erste Runde war an sie gegangen. Jetzt mußte sie nur noch darauf bestehen, daß moderne sanitäre Anlagen im Haus installiert wurden. Sie konnte es auf den Tod nicht mehr ertragen, das Plumpsklo zu benutzen.
Kapitel 7
Lockhart und Jessica waren krank, punktum. Der Fluch diese Bezeichnung hatte man der jungen Jessica beigebracht œ durchtrennte das zwischen ihnen bestehende zarte körperliche Band. Lockhart weigerte sich hartnäckig, seinen unwürdigen Körper seinem blutenden Engel aufzudrängen, und wenn sie einmal nicht blutete, weigerte sich sein Engel, auf ihr Recht als seine Frau zu bestehen und ihn aufgedrängt zu bekommen. Doch auch wenn sie in einer Art sexuellem Waffenstillstand lebten, so wuchs im fruchtbaren Boden ihrer Frustration dennoch die Liebe. Kurz gesagt, sie beteten einander an und verabscheuten die Welt, in der sie lebten. Lockhart verbrachte seine Tage nicht
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