Familienpoker: Vijay Kumars vierter Fall (German Edition)
ganzes Leben erschüttert. Sie wäre nicht glücklich geworden bei mir.«
Nachdenklich ging ich hinüber zum Klappbett und besah mir die Fotos auf dem gelben Plastiktischchen. Irene Winter stammte also aus einfachen Verhältnissen und hatte einen rasanten Aufstieg in der Gesellschaft hinter sich. Vielleicht war das die Erklärung dafür, weshalb sie sich derart für ihren Mann verbog. Die Angst vor dem Absturz, wieder dort zu landen, wo sie hergekommen war. Aber eigentlich ging mich das nichts an.
Ich widmete mich den Bildern. Die meisten zeigten Noemi im Verlauf der letzten fünf Jahre, Berger musste sie aus weiter Distanz beobachtet und fotografiert haben, wahrscheinlich von seinem Van aus. Auf einer Aufnahme war eine lachende Frau mit dunkelbraunen Haaren zu sehen, sie war etwas füllig und machte einen temperamentvollen Eindruck.
»Ihre Frau?« Ich hielt den Rahmen hoch.
Berger trat neben mich und nahm ihn mir bestimmt aus der Hand, um ihn an seinen Ort zurückzustellen.
»Weshalb haben Sie Noemi jedes Jahr am achtzehnten Juni Blumen hingelegt?«, fragte ich.
»Weil es ihr Geburtstag ist!« Berger lächelte etwas verwundert.
»Sie sagt etwas anderes.«
»Aber natürlich! Sie wurde am achtzehnten Juni in Madrid in dieser Privatklinik geboren, kurz bevor man sie für tot erklärt hat.« Seine Lippen zitterten ein klein wenig, er bemerkte es und presste sie fest zusammen.
»Das muss die Hölle für Sie gewesen sein. Sicher zu sein, dass Ihr Kind lebte, aber keine Ahnung zu haben, was mit ihm geschehen war.«
»Wissen Sie, was für einen Vater das Allerschlimmste ist? Das eigene Kind aus der Ferne aufwachsen zu sehen! Zu wissen, dass man ganz nah dran wäre, aber doch für immer getrennt bleibt. Man stellt sich all die Dinge vor, die man gemeinsam erleben, wie sehr man jeden einzelnen dieser Momente genießen würde, während einen die Liebe, die man zu geben hätte, fast erstickt. Man beweint Erinnerungen, die man nie teilen wird, weil sie nicht existieren. Weil sie einem gestohlen wurden. Und dass man ein verdammtes Recht auf all das gehabt hätte, wenn sich nicht jemand als Gott aufgespielt hätte!«
Berger war laut geworden, schwer atmend lehnte er sich an die Wand und besah sich traurig die Fotos. »Doch die Zeit verstreicht unwiederbringlich und lässt nichts zurück.«
»Und Sie wollen Noemi noch immer nicht kennenlernen?«
Berger sah mich an wie ein verwundetes Tier, doch er schüttelte bestimmt den Kopf. »Es ist besser so, glauben Sie mir.«
Mit einem Mal fühlte ich mich überflüssig. Ich hatte Noemis Auftrag erfüllt und ihren leiblichen Vater gefunden, obschon der sie längst selbst ausfindig gemacht hatte. Hier gab es für mich nichts mehr zu tun, zudem stieg aus irgendeiner Ecke der durchdringende Geruch von gammligem Käse auf. Es war Zeit, nach Hause zu gehen.
»Zuerst hab ich nur an mich gedacht«, fuhr Berger plötzlich fort, als hätte er meine Absicht bemerkt. »Ich hatte Noemis Akte aus dem Ordner gestohlen, doch nachdem ich meine Tochter gefunden hatte, plagte mich das schlechte Gewissen. Wenn schon ich nicht haben konnte, was mir gehörte, weshalb sollten dann all die anderen verzweifelten Eltern weiterleiden? Ich erachtete es als meine Pflicht, ihnen die übrigen Unterlagen auszuhändigen.«
»Aber?« Mein Telefon klingelte, doch ich drückte Mirandas Anruf weg. Für einmal würde sie sich in Geduld üben müssen.
»Sie waren weg«, sagte Berger. »Ich habe keine Ahnung, ob Tschanz den Diebstahl bemerkt hat, zumindest wurden wir weiterhin beschäftigt. Doch die Ordner waren kurze Zeit später nicht mehr im Schrank, er hat sie in Sicherheit gebracht. Wahrscheinlich in seinem Chalet in Gstaad, das er sich gerade neu gekauft hatte.«
Grüninger hatte zu Recht befürchtet, dass Sánchez nach ihm und den Unterlagen suchen würde und hatte sie deswegen rechtzeitig verschwinden lassen.
»Vielleicht könnten Sie mit Frau Tschanz reden?« Christoph Berger sah mich bittend an. »Sie ist ein umgänglicher Mensch und wenn Sie als Detektiv ihr die ganze Geschichte erklären, wirkt es glaubwürdiger, als wenn ich es tue.«
»Ich weiß nicht …« Eigentlich war mein Auftrag erledigt, obschon ich noch keine Ahnung hatte, was ich Noemi berichten sollte.
»Tun Sie es den Kindern und ihren Eltern zuliebe, bitte!«, flehte mich Berger an. »Diese Akten müssen dort irgendwo in einem Keller vor sich hin gammeln und nützen niemandem außer den Betroffenen etwas.«
Eigentlich hatte er
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