Familienpoker: Vijay Kumars vierter Fall (German Edition)
Sánchez’ Klinik.
In der Zwischenzeit war es dunkel geworden. Die Straßenlaternen warfen helle Lichtkegel auf die Pflastersteine und ein leichter Wind wisperte in den Bäumen der Innenhöfe, während die angenehm laue Nacht erfüllt war vom tausendfachen Zirpen der Grillen.
Ich hatte beinahe die Anhöhe erreicht, als mir die knallrot gestrichene Fassade einer Taverne ins Auge stach. Ein gemütliches Restaurant mit Wänden aus dunklem Täfer und andalusischen Mosaiken, wie ich mit einem Blick durchs Fenster feststellte. Die Tische waren weiß aufgedeckt, das Lokal aber noch leer.
Ich wollte mir gerade zum Trost einen Drink spendieren, als mich ein sich nähernder Camion zwang, zur Seite zu treten. Im Schritttempo holperte das Fahrzeug an mir vorbei und passte dabei nur knapp durch die enge Gasse, auf der Ladefläche reihten sich leuchtend orangefarbene Gasflaschen aneinander.
Mangels Ausweichmöglichkeiten hatte ich mich an die Hauswand gedrückt und während ich nun den kalkigen Staub von meinem Hemd klopfte, stellte ich fest, dass der Lastwagen zwischen den beiden Gebäuden des Ordens angehalten hatte und mit lautem Hupen seine Anwesenheit kundtat. Ich erkannte die sich bietende Gelegenheit erst, als im dritten Stock rechts das Fenster geöffnet wurde. Schwester Alma beugte sich heraus und warf nach ein paar Grußworten dem Camionfahrer einen Schlüsselbund zu.
Auf der Stelle setzte ich mich in Bewegung und rannte das Sträßchen hinunter.
»Ist das für Schwester Alma?«, keuchte ich und nahm dem Fahrer auf seine verdutzte Bestätigung hin kurzerhand Gasflasche und Schlüssel ab. »Ich übernehme das.«
Während er sich mit einem Schulterzucken die nächste Flasche schnappte, schloss ich auf und schleppte den Behälter die Stufen hoch.
Im dritten Stock hielt ich inne und ließ den Mann vorbei. Als er das Stockwerk über mir erreicht hatte, klopfte ich an Schwester Almas Wohnungstür.
Erschrocken riss sie die Augen auf, als sie mich erkannte, doch ehe sie um Hilfe rufen konnte, legte ich ihr blitzschnell die Hand auf den Mund und drängte sie in ihre Wohnung zurück.
»Keine Angst, ich tue Ihnen nichts!«, flüsterte ich beschwörend. »Aber ich benötige ein paar äußerst wichtige Informationen. Wenn Sie versprechen, nicht zu schreien, lasse ich Sie jetzt los.«
Ich spürte, wie sie am ganzen Leib zitterte, dennoch nickte sie tapfer. Irgendwo in der Wohnung bellte ein kleiner Hund. Vorsichtig zog ich die Hand zurück, doch der Blick der alten Frau blieb weiterhin ängstlich auf mich gerichtet. Wie mir schon am Morgen aufgefallen war, hatte sie ein freundliches Gesicht und die rosigen Wangen eines Großmütterchens. Ihre Körperhaltung war gebeugt und sie machte einen leicht tatterigen Eindruck.
Jetzt tat es mir leid, dass ich sie so grob behandelt hatte, aber wenn sie das ganze Haus zusammengeschrien hätte, wäre meine Suche nach Sánchez und den Unterlagen schnell beendet gewesen.
Ich tauschte rasch die leere Gasflasche gegen die volle aus, die noch draußen im Gang stand, zog die Wohnungstür hinter mir zu und gab Schwester Alma den Schlüssel zurück. Wie festgewurzelt war die ehemalige Hebamme in der spärlich erleuchteten Diele stehen geblieben.
»Sie müssen mir helfen«, bat ich sie, doch kaum hatte ich ihr gesagt, worum es ging, wehrte sie heftig ab.
»Bitte!«
»Ich kann nicht!«
»Ganze Familien wurden ins Unglück gestürzt! Das kann Ihnen doch nicht egal sein!«
Betroffen schaute die Schwester zu Boden. Als sie den Kopf wieder hob, waren ihre Augen voller Tränen. »Ich wollte das alles nicht. Das Leid und all die Lügen.«
»Dazu ist es jetzt zu spät, Sie waren Teil von diesen Machenschaften.«
»Das war ich, bei Gott, und ich bin nicht stolz darauf. Möge mir der Allmächtige verzeihen.«
»Helfen Sie mir! Mit Ihrer Unterstützung wird zwar das Unrecht nicht ungeschehen gemacht, aber vielleicht Leid gelindert. Sagen Sie mir, wo sich Sánchez versteckt hält, und ich verschwinde auf der Stelle.«
»Ich weiß nicht … die Wände hier haben Ohren!«, flüsterte Schwester Alma und schielte besorgt zur Tür. Der Hund knurrte, hatte aber glücklicherweise mit dem Gekläffe aufgehört. Draußen im Korridor waren jetzt schwere Schritte zu hören, sie näherten sich rasch und entfernten sich wieder, gleich darauf knarrte die Treppe. Der Gaslieferant brachte die leeren Flaschen hinunter.
»Niemand weiß, wo sich der Doktor aufhält, nicht einmal die Mutter Oberin«, wisperte
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