Familienpoker: Vijay Kumars vierter Fall (German Edition)
ihr recht geben: Die prachtvolle Halle mit den verspielten Türmchen und orientalisch anmutenden Verzierungen auf dem Dach, schmiedeeisernen Ornamenten an der Front und den riesigen, von warmem Licht erhellten Fensterscheiben war tatsächlich eindrücklich. Im Inneren, wo sich Stände und Bars dicht aneinanderreihten, sorgte die hohe Decke für Luft, die sichtbaren Stützpfeiler erinnerten an ein altes Industriegebäude.
»Art nouveau«, benannte mir Mo den Stil jener Epoche mit vollem Mund, nachdem ich sie im rammelvollen Markt endlich gefunden hatte. Sie saß mit José an einer langen Theke, in deren Vitrine kleine, mit Delikatessen belegte Teller ausgebreitet waren. Hinter der Bar schnitt ein stoppelbärtiger, untersetzter Koch Tintenfisch hauchdünn auf und beträufelte ihn mit Olivenöl und Zitronensaft. Obwohl ich keinen großen Hunger hatte, lief mir das Wasser im Mund zusammen. Ich fasste kurz meinen Besuch bei Schwester Alma zusammen, danach bestellte ich eine kleine Auswahl aus der Vitrine und eine weitere Flasche Malvasia, einen spanischen Weißwein, zu dem meine Freunde in der Zwischenzeit übergegangen waren.
»Immerhin weist die Geheimnummer darauf hin, dass sich Sánchez in Madrid aufhält.«
»Das finde ich so dreist, dass es beinahe wieder genial ist!« Mo schüttelte ungläubig den Kopf. »Da fahndet man monatelang nach dem Mann und dann stellt sich heraus, dass er weder in Südamerika noch auf dem verdammten Scheißmond ist, sondern direkt vor unserer Nase. Die ganze Zeit, das muss man sich mal vergegenwärtigen!« Sie drehte sich mit einem entrüsteten Augenaufschlag zu José um.
Irgendetwas hatte sich zwischen den beiden verändert. Die Distanz, die am Nachmittag noch beinahe greifbar gewesen war, war jetzt wie weggewischt und hatte einer wehmütigen Vertrautheit Platz gemacht. Sie lachten viel und sahen sich länger an, als meiner Meinung nach nötig gewesen wäre, und wenn sie miteinander sprachen, berührten sie sich wie zufällig.
»Was läuft da?«, fragte ich José wie aus der Pistole geschossen, als Mo sich wenig später auf den Weg zur Toilette machte.
»Nichts, was meinst du?«
»Spiel nicht den Unschuldigen!«
»Wir unterhalten uns und genießen den schönen Abend.«
»José, ich bin weder komplett bescheuert noch blind!«
»Bloß ein kleiner Flirt, sonst nichts. Um der alten Zeiten willen.«
»Wer’s glaubt!«, entfuhr es mir, während ich eine Garnele aus ihrer öligen Schale pulte. Der aufsteigende Knoblauchgeruch verschlug mir beinahe den Atem. Ich steckte sie mir in den Mund und lehnte mich vertraulich zu José hinüber. »Hast du sie echt sitzen lassen? Damals in Luzern?«
José verdrehte die Augen. »Glaubst du wirklich, ich würde mich einer Frau wie ihr gegenüber wie ein Arschloch verhalten?«
»Wie es scheint, lerne ich gerade ganz neue Seiten an dir kennen.«
» Qué tontería! Es gibt nur mindestens zwei Blickwinkel zu jeder Trennungsgeschichte. Unsere Beziehung war vorbei. Du kennst das doch: Man bleibt noch zusammen, weil keiner den entscheidenden Schritt tun will, aber eigentlich ist beiden klar, dass es aus ist.«
Das kam mir allerdings bekannt vor, diesen Zustand hatte ich eigentlich gegen Ende jeder meiner kurzlebigen Beziehungen vor Manju erlebt.
»Eines Abends haben wir uns heftig gestritten, heftiger als jemals zuvor. Wir haben uns Dinge an den Kopf geworfen, die so nicht gemeint waren. Am Ende bin ich rausgerannt und sie hat mir nachgeschrien, ich solle mich verpissen und nie mehr zurückkommen, es sei vorbei.«
»Und genau das hast du gemacht.«
» Hombre , es gab nichts mehr zu sagen. Die Schule hatten wir abgeschlossen und nichts hielt mich noch in Luzern. Ich sehnte mich so nach Zürich, dass ich am nächsten Tag mein Zimmer in der Wohngemeinschaft geräumt habe und in den Zug gestiegen bin. Ich habe mich nicht wieder bei ihr gemeldet, in diesem Punkt muss ich Mo recht geben, obwohl sie mich immer wieder zu erreichen versucht und mir auch lange Briefe geschrieben hat. Aber kaum war ich in Zürich …«
»… hast du Vera kennengelernt, jetzt erinnere ich mich.«
»Eso es. Natürlich gab es da immer einen Rest schlechten Gewissens, gerade weil ich nie geantwortet habe.«
»Deswegen die Ohrfeige.«
»Ich nehme es an. Aber hundertprozentig weiß eh kein Mann, was in einer Frau abgeht.«
»Und jetzt wärmst du die alte Geschichte wieder auf.«
» Oye, sie ist eine tolle Frau! Mehr noch als damals. Sie wirkt so jugendlich und gleichzeitig
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