Familienpoker: Vijay Kumars vierter Fall (German Edition)
Alma.
»Lebt er überhaupt noch?«
»Ja, ja, er ist zwar schwer krank, wissen Sie, aber er lebt noch. Alles, was wir haben, ist eine Nummer …«
»Geben Sie sie mir, bitte!«
»Es ist eine Geheimnummer, man darf sie nur im Notfall benutzen!«
»Das ist einer!«
»Nun, ich …«
Ich konnte förmlich sehen, wie sie mit sich rang. »Das Mädchen, Noemi, leidet entsetzlich unter der Situation, sie ist todunglücklich und wünscht sich nichts sehnlicher, als endlich ihren leiblichen Vater kennenzulernen«, setzte ich einen drauf.
In ihren Augen leuchtete etwas auf. »Noemi, sagen Sie?«
»Erinnern Sie sich an sie? Noemis Mutter ist bei der Geburt gestorben.«
Die alte Frau runzelte die Stirn. »Nein, nein, das ist alles so lange her. Und ich darf nicht darüber sprechen. Niemand darf darüber sprechen. Das ist gefährlich.«
Instinktiv blickte ich hinüber zur abgedunkelten Wohnung der Mutter Oberin. »Denken Sie doch einmal an all die Familien auf diesen Listen! Wollen Sie wirklich, dass diese Menschen weiterhin mit dieser Ungewissheit leben müssen? Wie können Sie nachts überhaupt noch schlafen?«
»Was wissen Sie schon von meinen Nächten.« Schwester Alma sah mich bedrückt an, während sie mit sich rang. Schließlich seufzte sie schwer und verschwand in der Küche. Ich hörte, wie sie einen Zettel abriss und mit einem Bleistift etwas auf Papier kitzelte, gleich darauf kehrte sie zurück und drückte mir einen gefalteten Zettel in die Hand. »Gehen Sie jetzt und kommen Sie nie wieder hierher!«, flüsterte sie. »Möge Gott Sie beschützen!«
Als ich aus der Wohnung trat, begann der Hund wieder zu bellen. Irgendwo in den oberen Stockwerken wurde eine Tür ins Schloss gezogen. Unverzüglich eilte ich die Treppe hinunter und verließ das Haus. Den Zettel sah ich mir erst an, nachdem ich in der leuchtend rot angestrichenen Taberna Bola an der Ecke ein weiteres Glas Cava bestellt hatte.
Sánchez lebte also noch und ich war soeben in den Besitz seiner Geheimnummer gelangt! Aufgeregt erkundigte ich mich nach einem Telefon, worauf der Wirt auf einen uralt aussehenden Apparat auf der Anrichte deutete. Das Lokal war immer noch leer, einzig an einem Fenstertisch saß ein älteres Paar und unterhielt sich auf Schwäbisch, während es auf sein Essen wartete. Ich nahm das schwarz lackierte Telefon in die Hand und zog mich so weit in den Verbindungsgang zur Küche zurück, wie es das Kabel zuließ. Dann klemmte ich den Hörer zwischen Kinn und Schulter, wählte die Nummer und ließ es mindestens zehn Mal klingeln. Niemand ging ran.
Ich guckte mir die Zahlenabfolge genauer an. Sie begann mit 91, was bedeutete, dass der Anschluss in Madrid gemeldet war. Sánchez war also immer noch in der Stadt! Fragte sich nur, wo. Den Auskunftsdienst konnte ich vergessen, die würden niemals die zu einer Geheimnummer gehörende Adresse herausrücken. Auch ging ich davon aus, dass Sánchez’ Telefon mit einer Anruferkennung ausgestattet war. Deswegen hatte ich ihn nicht vom Handy aus angerufen, die Schweizer Vorwahl hätte mich sofort verraten. Wenn er aber ohnehin nur Anrufe von ihm bekannten Anschlüssen entgegennahm, dann nützte mir seine Nummer rein gar nichts. Und erneut Schwester Almas schlechtes Gewissen auszunutzen und ihn von ihrem Apparat aus zu kontaktieren, war keine besonders kluge Idee, denn so hätte Sánchez sofort gewusst, woher ich die vertrauliche Information hatte.
Genervt setzte ich mich wieder hin, stopfte den Zettel mit der Telefonnummer in meine Hosentasche und leerte mein Glas. Ich war dazu verdammt, immer wieder diese eine Nummer anzurufen – selbst wenn die Aussicht auf Erfolg milde ausgedrückt trüb war. Schon wieder steckte ich in diesem Fall fest.
Der Mercado de San Miguel wäre angeblich von meinem Standort aus in knapp zehn Minuten zu erreichen gewesen. Da ich mich aber in Madrid nicht besonders gut auskannte, irrte ich mindestens eine halbe Stunde lang durch die verschlungenen Gässchen der Altstadt, bevor ich mir ein Herz fasste und ein paar Jugendliche nach der Markthalle fragte, in der Mónica und José auf mich warteten. Kein üppiges Abendessen heute, hatte Josés Exfreundin angekündigt – schließlich hätten wir gerade erst eine Unmenge Tapas verdrückt –, dafür eine schicke Location, um bei weiteren leckeren Häppchen und gutem Wein den Abend einzuläuten.
Als ich auf die sorgfältig renovierte Stahlkonstruktion aus den Anfängen des zwanzigsten Jahrhunderts zuging, musste ich
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