Familienpoker: Vijay Kumars vierter Fall (German Edition)
Geländer. Selbstmord, wie es hieß. Ich wäre auch gar nicht in der Lage gewesen, einen Mord zu begehen. Ein paar Monate bevor Grüninger nach Bern zog, erlitt ich einen Zusammenbruch und kam nur langsam wieder auf die Beine.« Niedergeschlagen starrte Berger vor sich hin.
»Trotzdem haben Sie sich als Mitarbeiter einer Reinigung auf gerissene Art Zugang zu seiner Wohnung verschafft.«
»Es war ein Leichtes, seine neue Wohnadresse ausfindig zu machen. Ich erkundigte mich, wer den Reinigungsauftrag für das Apartment erhalten hatte, fälschte meinen Lebenslauf und bewarb mich bei Moretti.«
»Weshalb haben Sie nicht schon vorher versucht, an Grüninger ranzukommen?«
»In Spanien hat er sich von Leibwächtern abschirmen lassen, es war schlicht unmöglich, sich ihm zu nähern. Zudem war ich komplett absorbiert von der Suche nach Noemi. Elf Jahre lang war ich andauernd zwischen Bern und Madrid unterwegs und fand mich auf Dutzenden von Ämtern und Anlaufstellen wieder, füllte unzählige Formulare aus, erzählte die Leidensgeschichte immer wieder aufs Neue und traf mich mit anderen Betroffenen zum Austausch, ohne Noemi auch nur ansatzweise näherzukommen. Das hat nicht nur meine körperlichen, sondern auch meine finanziellen Reserven aufgebraucht und trotz meinen Bemühungen konnte mir niemand sagen, wessen Tochter sie nun war.«
»Sie waren überzeugt, dass Ihre Tochter noch lebt?«
»Immer.«
»Und haben sich von Grüninger Antworten erhofft.«
»Er war meine letzte Hoffnung. Als ich ihn zum ersten Mal in seiner Wohnung antraf, zitterte ich am ganzen Leib, denn ich wusste nicht, ob er mich wiedererkennen würde. Immerhin hatte er mir kurz nach Noemis Geburt in der Klinik sein Beileid ausgesprochen. Glücklicherweise hat er sich nicht an mich erinnert.«
»Wie war er?«
Berger kratzte sich den Nacken und stieß ein trockenes Lachen aus. »Normal. Korrekt. Ein langweiliger Spießer. Man hätte ihm die ganzen Verbrechen gar nicht zugetraut. Moretti und mich schien er gar nicht wahrzunehmen. Er hat regelrecht durch uns hindurchgeguckt, wir Reinigungskräfte waren für den Herrn Doktor unsichtbar.«
»Und? Haben Sie mit ihm über Noemi gesprochen?«
»Es kam nicht dazu. Ich lauerte die ganze Zeit auf eine günstige Gelegenheit, damit Moretti nichts mitbekam. Doch dann ging Grüninger eines Tages ins Büro, als ich gerade den Gang davor staubsaugte, und ließ die Tür hinter sich offen stehen. Ich beobachtete, wie er den Schlüssel zum Aktenschrank aus dem Übertopf eines Gummibaums klaubte.« Berger schüttelte verständnislos den Kopf. »Während er sich am Schrank zu schaffen machte, konnte ich einen Blick auf die Ordner werfen, es waren gut zwei Dutzend. Sie waren auf Spanisch beschriftet und mit Jahreszahlen markiert. 1997 bis 2007. Genauso lange hatte die Privatklinik existiert, bevor ein Zeitungsbericht den Skandal endlich aufgedeckt hatte und die beiden Ärzte abgetaucht waren. 1997 wurde Noemi geboren, die Klinik war damals ganz neu und genoss einen tadellosen Ruf. Ich wartete ab, bis die Luft rein war, und stibitzte mir den entsprechenden Ordner aus dem Schrank.«
»Und fanden so heraus, bei wem Noemi heute lebte.«
Christoph Berger nickte. »Ich hatte erst nur einen Namen. Die Anschrift der Winters rauszufinden, war aber keine große Sache.«
»Aber weshalb haben Sie sich Noemi gegenüber nicht zu erkennen gegeben? Vieles wäre für sie leichter und verständlicher geworden, hätte sie von Ihnen gewusst.«
Berger machte ein verzweifeltes Gesicht. »Zuerst wollte ich ja, es war mein sehnlichster Wunsch, meine Tochter nach all den Jahren der Ungewissheit in die Arme zu schließen. Doch dann stand ich dort vor dem Haus dieser Leute und habe gesehen, wie sie wohnt. Diese Pracht, dieser Luxus. Sie war gut aufgehoben und bei mir …« Seine Hand vollführte eine hilflose Bewegung. »Ich hätte ihr nichts bieten können, außer diesem Elend. Ich lebe in einem Loch, bin körperlich und mental angeschlagen … wer möchte schon so einen Vater?«
»Deshalb haben Sie auf Ihre Tochter verzichtet?«
»Sie lebte in stabilen Verhältnissen. Hans-Rudolf Winter hält eine außerordentlich gut bezahlte Kaderstelle inne, so viel habe ich herausgefunden. Seine Frau war Verkäuferin in einer Importparfümerie gewesen, bis sie ihren Zukünftigen kennengelernt hat. Sie liebte Noemi über alles und ich war mir sicher, dass es dem Mädchen bei den Winters gut ging. Wäre ich aus dem Nichts dazugestoßen, hätte ich ihr
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