Familienpoker: Vijay Kumars vierter Fall (German Edition)
habe darin gesessen, hager und mit dichtem, grauem Haar. Die Beschreibung passte ziemlich genau auf Christoph Berger.
Spätnachmittägliches Licht blendete mich, als ich die letzten Stufen zu Bergers Wohnung im obersten Stock des Gewerbegebäudes hochstürmte.
»Was ist denn los?« Er hatte die Tür nur spaltbreit geöffnet, nachdem ich mit der Faust heftig dagegengehämmert hatte, und blinzelte nun gegen die Sonnenstrahlen an. »Sie schon wieder?«
»Noemi«, stieß ich atemlos hervor. »Ich komme im Auftrag von Noemi.«
Mein Beruf hatte mir im Verlauf der Jahre aufgezeigt, dass Zufälle rar waren und die meisten Dinge, die einem widerfuhren, dem Gesetz von Ursache und Wirkung unterworfen waren. Dass mir die osteuropäische Haushaltshilfe der Winters von einem weißen Van mit blauer Aufschrift und ebensolchem Bär berichtet, der ihr genau an dem Morgen aufgefallen ist, an dem ein mysteriöser, für Noemi bestimmter Blumenstrauß gefunden wird, bedeutete an sich nicht viel. Wenn aber ein ebensolcher Van vor dem Heim ausgerechnet jenes Mannes geparkt ist, der beim mutmaßlichen Besitzer von Noemis echter Adoptionsakte putzt, dann musste man schon auf beiden Augen blind sein, um den Zusammenhang zu übersehen.
Berger hörte auf zu blinzeln und wich langsam zurück. Ich glaubte zwar nicht, dass dies eine Einladung war, folgte ihm aber dennoch in die Wohnung hinein, die sich als beengend kleine Mansarde herausstellte. Als wäre die Platzknappheit nicht bedrückend genug, war der Raum zusätzlich mit Müll vollgestellt. Wohin ich auch schaute, überall stapelten sich Pizzakartons. Auf dem Tisch, den Stühlen, am Boden. Flaschen und leere Konservendosen reihten sich den Wänden entlang, Briefe, Werbeprospekte und Zeitungen lagen verstreut auf dem Spannteppich. Im hinteren Bereich der Unterkunft erkannte ich ein heruntergeklapptes Schrankbett, darauf häufte sich sauber gefaltete Wäsche neben achtlos hingeworfenen schmutzigen Socken und Unterhosen.
Zwei Dachluken sorgten für schräg einfallendes Licht, zur Straße hin gab es ein großes Fenster, das nur angelehnt war und so wenigstens ab und zu für einen erfrischenden Luftzug in der ansonsten stickigen Kammer sorgte.
Mein Blick blieb an den gerahmten Fotografien auf dem Tischchen neben dem Bett hängen. Die meisten waren unscharf und aus weiter Ferne aufgenommen, wie verwackelte Paparazziaufnahmen.
»Sie sind Noemis leiblicher Vater.«
»Wie kommen Sie …?« Er beendete den Satz nicht, als er bemerkte, dass ich die Fotos von Noemi entdeckt hatte, und stakste nervös zwischen den Abfallbergen herum. Seine Finger arbeiteten sich über die Seitennähte seiner Hose rauf und runter, während er es tunlichst vermied, mich anzusehen.
»Sie hat mich beauftragt, Sie zu finden.«
Ruckartig blieb er stehen. »Aber woher wusste sie überhaupt …?«
»Sie hatte das Gefühl, dass etwas in ihrer Familie nicht stimmt. Ein längst fälliges Gespräch mit ihrer Adoptivmutter hat dann zutage gebracht, dass sie richtig lag.«
Berger gab einen zustimmenden Laut von sich und nahm seine unstete Wanderung wieder auf.
»Wie haben Sie Grüninger ausfindig gemacht?«
Berger glotzte mich an, bis etwas einzurasten schien.
»Ein Zufall …«, stammelte er leise und räusperte sich, bevor er mit kräftigerer Stimme fortfuhr: »Ich hab sein Bild vor rund sechs Jahren in der Gesellschaftsspalte der Tageszeitung entdeckt. Es hieß dort, nachdem der Berner Arzt Doktor Tschanz mit seiner Frau lange in Madrid gelebt hätte, würde er wegen der anstehenden Einschulung seines Sohnes zurück nach Bern ziehen. Grüninger hatte in der Zwischenzeit den Namen seiner Frau angenommen, doch ich erkannte in ihm sofort den Arzt wieder, der meine Frau …« Er fuhr sich mit der Hand über den Mund.
»Haben Sie ihn umgebracht?«
Er schien in Gedanken ganz woanders zu sein, erst als ich meine Frage wiederholte, erinnerte er sich an meine Anwesenheit und sah mich erschrocken an.
»Nein, um Gottes willen! Natürlich war ich wütend auf den Mann, wer wäre das nicht gewesen. Wegen ihm habe ich alles verloren: meine Frau, mein Kind, den Job, meine Existenzgrundlage. Aber umgebracht habe ich ihn deswegen nicht. Er hat sich in die Kander gestürzt …«
»Hab ich gehört.«
»Seine Frau hat es mir erzählt. Da gibt es einen Steg in der Nähe von Reutigen, kurz nach der Stelle, an der Simme und Kander zusammenfließen. Dort ist er runtergesprungen, man hat seinen Wagen in der Nähe gefunden und Blut am
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