Fangschuss
kam mit ausgebreiteten Armen auf mich zu. »Hast du Zeit?«, erkundigte er sich, nachdem wir uns umarmt hatten.
Ich nickte. Wie immer war er unrasiert, trug eines dieser an Geschirrtücher erinnernden Kurzarmhemden und eine verkehrt herum aufgesetzte Baseballkappe, mit der er irgendwie ein wenig zurückgeblieben wirkte. Was er keineswegs war. José und ich hatten zusammen das Gymnasium besucht und uns schon dort bestens verstanden, was nicht unerheblich mit unseren Kneipenbesuchen vor der nachmittäglichen Doppelstunde Mathematik zusammengehangen hatte. Die daraus resultierende Trinkfestigkeit und Inkompetenz, was Zahlen anging, hatte unsere Schicksalsgemeinschaft besiegelt. Im Verlauf der Jahre war eine enge Freundschaft daraus entstanden, die jedoch immer noch stark von übermäßigem Alkoholgenuss geprägt war. Gewisse Dinge änderten sich nie. Deswegen fanden wir uns etwa drei Minuten später in einem schicken Lokal mit einer riesigen Fensterfront wieder, in dem der Mittagsservice allmählich abflaute.
»Was denkst du?«
»Schümli Pflümli?«
»Ein hervorragender Detektiv, meine Hochachtung!«
»Blödmann.«
Ein wenig Alkohol konnte dem angebrochenen Nachmittag kaum schaden. José winkte der Bedienung, die ganz auf Zürcher In-Lokal getrimmt war. Das heißt, ihr Körper, dem sie jede Sinnlichkeit weggehungert hatte, steckte in verwahrlost aussehenden, aber mutmaßlich sündhaft teuren Klamotten, eine perfekt zerzauste Frisur, die bis zur letzten abstehenden Haarsträhne durchgestylt war, zierte ihr Haupt, und ihre ganze Attitüde ließ erahnen, dass sie eigentlich Schriftstellerin oder Schauspielerin war und den Job hier nur aus purer Freude machte. Letztere jedoch konnte man hinter der angeödeten Miene nur erahnen. José bestellte, ohne sich von der geballten Ladung Understatement beeindrucken zu lassen, und wandte sich dann wieder mir zu.
»Schau dir das mal an!« Er kramte eine Gratiszeitung aus seiner Tasche und tippte aufgeregt auf die Schlagzeile. Letten-Leiche wurde zerfleischt!, war da zu lesen. Der Junge, den man in der Limmat gefunden hatte, hatte es also bereits zum zweiten Mal auf die Titelseite geschafft. Anscheinend geschah sonst nicht gerade viel in der Welt.
»Die neusten Untersuchungen haben ergeben, dass er von Hunden angefallen wurde. Das arme Schwein ist elendiglich verblutet. Eine grässliche Vorstellung.«
»Wem gehörten denn die Köter?«
»Genau da beginnen die Fragen. Wer war er? Wo und weshalb haben ihn die Hunde erwischt? Und wer hat ihn danach in die Limmat befördert?«
Ich drehte die Zeitung zu mir hin und überflog den Artikel. »Da steht dein Name drunter.«
»Der Chefredaktor hat mich auf den Fall angesetzt.«
»Ein weiterer Bluthund.«
»Hombre, mit dem Bericht über die neue Frisur einer Bundesrätin holst du keine Leser. Da kann sie noch so viele Strähnchen blondieren.«
»Stimmt schon, aber das da scheint nicht gerade eine besonders appetitliche Angelegenheit zu werden. Irgendwann wird sich herausstellen, wer der Besitzer der Viecher ist. Du wirst in den miefigen Vorort fahren und zu hören bekommen, dass die armen Tiere jahrelang und halb verhungert in einem winzigen Zwinger gefangen gehalten wurden, und dann wirst du die über den Gartenzaun glotzenden Nachbarn interviewen, die entweder nichts gesehen oder so etwas schon immer befürchtet haben. Nur unternommen hat von denen keiner was. Und dann meldet sich die Freundin des Halters und heult rum, wie leid ihr das alles tue und dass sie ihn schon lange verlassen wollte, und der Halter selbst ist auch so eine verwahrloste Existenz, mehrmals vorbestraft und nicht sozialkompatibel. Du wirst gegen deine Verachtung ankämpfen müssen und einen Bericht schreiben, der die beiden als rücksichtslose Monster erscheinen lässt, und sie werden dadurch mehr Aufmerksamkeit bekommen, als sie sich jemals vorgestellt haben. Man wird sie im Fernsehen bringen und ihnen ganze Seiten in den Zeitungen widmen, nur um sie am Ende, wenn die Geschichte ausgelutscht ist und sich die Aufregung gelegt hat, fallen zu lassen. Und dann beginnt das ganze Elend von Neuem. Nur guckt dann keiner mehr hin.«
»Was willst du damit sagen?«
»Keine Ahnung.« Ich bemerkte erst jetzt, dass ich mich in Rage geredet hatte.
José lächelte spöttisch. »Im Übrigen ist das mein Job. Deine Arbeit, mein Lieber, unterscheidet sich dabei nicht merklich von meiner. Das wirst du noch früh genug bemerken. Und dann komm ich mit der Moral, darauf kannst
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