Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Farben der Schuld

Farben der Schuld

Titel: Farben der Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
Vom Netzwerk:
vornehmes Kuvert, platziert es sorgfältig neben den Tulpen. Sie steht auf, betrachtet das Schwarzweißfoto ihres Vaters an der Küchenwand. Er sieht sie an, genau so wie immer. Ein gut aussehender, junger Fremder mit Zigarette und herausforderndem Blick, an den sie sich nicht erinnern kann. Vor etwa einem Jahr hat sie das Foto aufgehängt, während ihrer Auszeit. Es war ein Impuls, eine spontane Entscheidung, die sie sich selbst nicht erklären kann. Im Sommer hängte sie dann noch das Gemälde des Eistauchers dazu, das Vermächtnis ihrer Schulkameradin Charlotte Simonis. Meine Toten und ihre Spuren, denkt Judith und stellt ihr Wasserglas in die Spüle. Der Vater, der mich verraten hat. Die Freundin, die ich verraten habe. Warum habe ich eigentlich nie ein Foto von Patrick aufgehängt, dem Freund, mit dem alles in Ordnung war, warum gehe ich nur immer zu seinem Grab?
    Hunger, sie hat Hunger, und sie will nicht mehr allein sein.
    Sie streift ihren Parka über, steckt Geld und Handy ein. Auch das Treppenherabsteigen fällt ihr viel schwerer als früher, bringt ihre Knie zum Zittern, lässt sie schwitzen. Irgendwo weiter unten knallt eine Tür zu, etwas fällt zu Boden, und für Sekundenbruchteile kommt die Erinnerung an das Haus zurück. Atmen, Judith, ruhig bleiben, die nächste Stufe nehmen und dann die nächste und immer so weiter. Schweiß kriecht ihr in den Nacken und über die Schläfen, ihr Pulsschlag summt in ihren Ohren. Sie zwingt sich vorwärts, an den Briefkästen vorbei und nach einer kleinen Ewigkeit auf die Straße. Erst hier bleibt sie stehen, lehnt sich an eine Hauswand, wischt sich mit dem Ärmel über die Stirn. Verfluchte Treppen, verfluchte Schwäche. In ihrem linken Handgelenk pocht der Schmerz, nicht sehr stark, eher wie durch Watte gedämpft, dennoch beharrlich.
    Collus Fraktur AO3, haben die Ärzte gesagt. Höchst kompliziert. Beide Handgelenksknochen waren gebrochen, sind nun für das nächste halbe Jahr mit einer Platte fixiert. Der Gips ist ab, die Narbe ist geblieben. Die Narbe und die Schwäche und die Folgekomplikation. Machen Sie Ihre Übungen. Haben Sie Geduld, Frau Krieger. Das wird schon wieder. Es hätte noch schlimmer sein können. Sie haben Glück gehabt.
    Der Putz der Hauswand in ihrem Rücken ist rau. Sie tastet danach, lehnt sich noch immer an. Das Glück ist flüchtig, sie hat früh gelernt, sich nicht darauf zu verlassen. Abschiede haben ihr Leben geprägt. Die Umzüge in immer neue Städte während ihrer Schulzeit. Der Bruch mit Cora und ihrem Traum, die Welt für Frauen aus den Angeln zu heben, als sie sich ent-schloss, zur Polizei zu gehen. Abschiede von Liebhabern nach mehr oder minder geglückten Nächten. Patricks Tod. Und doch gab es das Glück, denkt sie jetzt auf einmal. Ich hatte Liebhaber, Lieben, Freundinnen selbst in der Schulzeit. Es gab diese fliegenden Jahre mit Cora, unsere absolute Gewissheit, das Richtige zu tun. Es gab die Freundschaft mit Patrick, unsere durchzechten Nächte, den Spaß, den wir dabei hatten und unsere ersten gemeinsamen Schritte bei der Kriminalpolizei.
    Judith löst sich von der Hauswand, läuft los, inhaliert die Stadtluft in gierigen Zügen. Es ist schon dunkel, die meisten Geschäfte schließen. Menschen hasten an ihr vorbei, Autos quälen sich Stoßstange an Stoßstange zum Chlodwigplatz, in einem Imbiss essen drei Handwerker Gyros, eine dickliche Frau tritt vor Judith auf den Bürgersteig und zündet sich eine Zigarette an. Wieder fühlt Judith die Schwäche in ihren Beinen, und ihre Zunge ist plötzlich rau wie Sandpapier. Sie tastet nach dem Tabakpäckchen in ihrer Manteltasche, krampft die Finger darum, bleibt vor dem nächstbesten Schaufenster stehen. Ein Friseursalon, wahrscheinlich eine Neueröffnung, jedenfalls hat sie ihn nie zuvor bemerkt.
    Drinnen fegt eine junge, schwarzhaarige Frau mit schnellen, energischen Schwüngen den Boden. Die Wände hinter den hohen Spiegeln sind in einem hellen Grüntürkis gestrichen. Es sieht nach Meer aus, nach Frische und trotzdem warm. Ich werde meine Wohnung renovieren, entrümpeln, endlich ein neues Sofa und Sessel kaufen. Ich werde eine Wand im Wohnzimmer genau in diesem Grün streichen, ein paar Zimmerpflanzen anschaffen und neue Sitzkissen für die Fensterbank, beschließt Judith und sieht das Ergebnis fast greifbar vor sich. Sie läuft weiter, leichter jetzt, erreicht das Lokal, in dem sie mit Manni verabredet ist, in nur zehn Minuten.
    Manni ist schon da, er lehnt am Tresen, trinkt

Weitere Kostenlose Bücher