Farlander - Der Pfad des Kriegers - Buchanan, C: Farlander - Der Pfad des Kriegers - Farlander
Mädchen ansah, das nun in Ketten am Ende der Prozession marschierte, meinte Kira nachdenklich: »Manchmal frage ich mich, ob wir mit der Errichtung des Reiches nicht gleichzeitig etwas verloren haben. Mir zumindest scheint es so. Für jeden Gewinn gibt es einen Verlust. Und für jeden Verlust einen Gewinn. Früher waren wir auf Heimlichkeit und Verrat angewiesen: auf Betrunkene, die von der Taverne nach Hause taumelten, auf Straßenkinder, die spät abends noch auf den Beinen waren oder auf unvorsichtige Reisende. Aber das ist lange her. Ich habe den Eindruck, dass es damals besser war.«
Kirkus hörte ihr kaum zu. Noch immer sah er sich aufmerksam um – und wartete – und wartete.
Die Sänfte hielt schließlich auf einem lauten Marktplatz an. Kirkus wusste, dass das hier das Stadtzentrum war, denn wo sonst konnte man erwarten, einen rostfarbenen, einhundert Fuß hohen Stachel aus dem Steinpflaster aufragen zu sehen? Er starrte den großen Pfahl an, der sich hoch über den Marktplatz erhob.
Seine Großmutter bemerkte Kirkus’ Verwunderung.
»Das war Mokabis Idee«, begann sie. »Nachdem die Stadt gefallen war, hat er…«
» Ich weiß .«
Die Passanten schienen dem Monument wenig Aufmerksamkeit zu schenken, während sie ihren eigenen Angelegenheiten nachgingen. Er sah Blumengebinde um das fleckige Podest, an dem Soldaten Wache standen und die Menge beobachteten.
Die Stadt Skara-Brae war die letzte nathalesische Festung gewesen, die bei der Dritten Eroberung gefallen war. Hano, die junge Königin von Nathal, die gleichzeitig ein militärisches Genie gewesen war, hatte auf dem Feld eine Niederlage erlitten und war mit den Resten ihrer Streitkräfte hierher nach Skara-Brae geflüchtet. Erzgeneral Mokabi, der Oberbefehlshaber der Vierten Armee, war ihr nachgejagt, hatte die Stadt belagert und gefordert, dass die Tore geöffnet wurden, ansonsten würde er alle Einwohner umbringen lassen. Es hieß, dass die junge Königin ihm daraufhin angeboten hatte, sich selbst an ihn auszuliefern, aber ihre Soldaten und die Bewohner der Stadt hatten sie nicht gehen lassen. Für diesen Widerstand hatten sie einen schrecklich hohen Preis gezahlt.
Als die Stadt endlich und unter großen Verlusten der Vierten Armee gefallen war, entschied Erzgeneral Mokabi, ein Fest für die Eroberungstruppen zu feiern, die während des Feldzuges so große Entbehrungen erlitten hatten. Zuerst wurde die Stadt in ein Bordell verwandelt, und alle, die nicht oder nicht mehr gewünscht waren, wurden umgebracht. Dann ordnete der General einer
plötzlichen Eingebung folgend an, die Rüstungen all seiner Männer, die während der Belagerung gestorben waren, einzuschmelzen und daraus einen großen Stachel zu schmieden. Am Ende war er einhundert Fuß hoch und erhielt ein Fundament aus Beton. Er sollte auf dem Marktplatz errichtet werden, damit jedermann ihn sehen konnte, wurde aber zunächst in die Horizontale gelegt.
In der fünften Nacht nach dem Fall der Stadt zwangen die Soldaten des Erzgenerals in einer Orgie der Trunkenheit und Ausschweifung die besiegten Offiziere und die Anführer der Stadt einen nach dem anderen, zur Spitze des Stachels zu gehen. Sie wurden dagegen gepresst und horizontal gepfählt; Männer und Frauen wurden hintereinander durchbohrt, bis der Eisenstachel vollständig mit ihnen bedeckt war. Die meisten starben dabei. Auf die Spitze wurde Hano selbst gesteckt.
Auf den Befehl des Erzgenerals und mit einem herausgebrüllten Salut an die besiegte Königin – zumindest berichtete Valores es so – wurde der mit Leichen gespickte Stachel von dreihundert versklavten Einwohnern aufgerichtet, damit er als ewiges Monument der Eroberung diente.
Das war eine mitreißende Geschichte, und als Kirkus Jahre später schließlich Mokabi auf einer Geburtstagsfeier für Kirkus’ Mutter, der Heiligen Matriarchin, begegnet war, hatten ihm die Worte gefehlt, als sich der alte Mann freundlich nach dem Fortgang seiner jugendlichen Studien erkundigt hatte. Kirkus war in der Gegenwart dieser lebenden und atmenden Legende von Ehrfurcht ergriffen worden. Doch da war noch etwas
gewesen, etwas Unterschwelliges, das seine junge Zunge gelähmt hatte, als er vor dem Erzgeneral gestanden hatte, und das ihn einige schlaflose Nächte im Tempel des Wisperns gekostet hatte. Denn als der junge Kirkus die große Hand des Mannes ergriffen hatte, war er über irgendetwas an dieser fleischigen, kühlen und ein wenig schweißfeuchten Berührung entsetzt gewesen.
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