Faszination Menschenfresser
Kolonialbehörden »offiziell« registriert worden waren. Die Stelle, an der Corbett dem mörderischen Treiben des Leoparden von Rudraprayag ein Ende gesetzt hat, ist heute durch einen Gedenkstein gekennzeichnet und zu einem beliebten Ziel vor allem für britische Touristen geworden.
Geht es lediglich nach der Zahl der Opfer, dann war der Leopard von Rudraprayag aber nicht das Maß aller Dinge, sondern ein anderer Leopard, der später als der Leopard von Panar in die Geschichte einging. Diesem König der Menschenfresser sollen im nordindischen Kumaon-Distrikt über mehrere Jahre hinweg 400 Menschen zum Opfer gefallen sein. Auch dieser Man-eater wurde 1910 von Jim Corbett erlegt.
Ein weiterer berühmter Man-eater, der Leopard of the Yellagiri Hills, dem insgesamt drei Menschen zum Opfer fielen, ging im Gegensatz zu anderen Menschenfressern bei hellem Tageslicht auf die Jagd. Eine Angewohnheit, für die sein Bezwinger, der britische Großwildjäger Kenneth Anderson, keine Erklärung fand: »In seinen Gewohnheiten war der Leopard sogar für einen Menschenfresser äußerst ungewöhnlich. Er hatte mehrfach seine Opfer bei hellem Tageslicht attackiert. Eigentlich machen das nur Tiger. Menschenfressende Leoparden, die von ihrer Veranlagung her rechte Feiglinge sind, beschränken ihre Aktivitäten dagegen auf die Stunden der Dunkelheit.«
Anderson hielt übrigens Leoparden auch für deutlich gefährlicher als Tiger, »obwohl solche Exemplare selten sind, wenn sie auftreten, zeigen sie doch, dass der Leopard eine ähnliche Vernichtungsmaschine ist wie sein weit größerer Cousin, der Tiger. Wegen seiner geringeren Größe kann er sich an Plätzen verstecken, die dem Tiger nicht zugänglich sind, er braucht deutlich weniger Wasser, und durch seinen wahrhaft dämonischen Listenreichtum und Mut, gepaart mit einem unglaublichen Sinn, sich selbst zu schützen und sich heimlich davonzustehlen, wenn Gefahr droht, braucht er keinen Vergleich zu scheuen.«
Ein besonders übler Menschenfresser der jüngeren Vergangenheit war die sogenannte Bestie von Gujarat, die allein im Jahr 2003 rund 20 Menschen getötet und über 45 verwundet hat, bevor sie von 200 Jägern regelrecht in Fetzen geschossen wurde.
Mensch und Leopard prallen im Kampf um Lebensraum und Nahrung mittlerweile sogar in einer der größten Städte der Welt, nämlich der westindischen Metropole Mumbai, aufeinander. Denn im Norden grenzt die Millionenstadt unmittelbar an den rund 100 Quadratkilometer großen Borivli-Nationalpark, die grüne Lunge der Stadt. Zwar genießen Nationalparks in Indien offiziell einen umfassenden Rechtsschutz, ein Schutz, der jedoch oftmals lediglich auf dem Papier besteht. So haben in den letzten Jahren 10 000 Familien auf der Suche nach neuem Wohnraum die Stadtgrenze von Mumbai überschritten und sich in den Randbezirken des Parks niedergelassen. Mit der Zahl dieser illegalen Siedlungen nahmen in den vergangenen Jahren aber auch die Überfälle von Leoparden zu. Allein 2004 wurden im Borivli-Nationalpark 19 Menschen von Leoparden angefallen, 14 von ihnen starben an ihren Verletzungen. Die meisten Opfer waren Personen, die am frühen Morgen oder spätabends im Wald ihre Notdurft verrichteten.
Aber der »Grenzverkehr« findet offenbar auch in umgekehrter Richtung statt. In letzter Zeit wurden nämlich auch immer mehr Leoparden in den Außenbezirken von Mumbai gesichtet. Raubtierexperten gehen davon aus, dass die Leoparden vor allem von den zahlreichen streunenden Hunden, einer leicht zu erbeutenden Lieblingsspeise der gefleckten Katzen, in die Stadt gelockt wurden.
Nach einer offiziellen »Volkszählung« aus dem Jahr 1997 leben in Indien noch etwa zwischen 7000 und 8000 Leoparden. Eine Zahl, die von Naturschützern stark bezweifelt wird. Eigentlich ist der Leopard, dessen Bestände aufgrund der starken Bejagung im letzten Jahrhundert deutlich zurückgegangen sind, in Indien streng geschützt. Nach dem indischen Gesetz wird die Tötung eines Leoparden normalerweise mit bis zu sechs Jahren Haft bestraft. Aber die Tierschutzbehörden erteilen auch mit schöner Regelmäßigkeit Ausnahmegenehmigungen, die es erlauben, einen eigentlich geschützten Leoparden zu töten, wenn es sich nachgewiesenermaßen um einen Man-eater handelt. Eine Praxis, die auch auf Druck einer völlig verängstigten Bevölkerung, um es vorsichtig auszudrücken, ziemlich locker gehandhabt wird.
So wurden in Indien zwischen 2006 und 2010 allein auf »behördliche Anordnung«
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