Fatal Error
fragte ich sie.
»Aber sicher«, sagte sie und hielt mir ihr Glas hin. »Weißt du, ich bin mir nicht sicher, dass Ninetyminutes jemals richtig in Gang gekommen wäre.«
»Wie meinst du das?«
»Na ja, Guy ist doch ziemlich nahe an seinem Ziel. Noch ein paar Monate Expansion, dann wäre Ninetyminutes die Nummer eins der Fußball-Sites in Europa. Mittlerweile kennen die meisten Menschen den Markennamen. Viele kaufen die Kleidung und die Fanartikel.«
»Richtig.«
»Also, wo liegt das Problem?«
»Das Problem liegt darin, dass wir kein Geld mehr haben und in naher Zukunft wohl auch keins kriegen.«
»Exakt«, sagte Ingrid. »Und das ist entscheidend. Jetzt. Vor einem Jahr schien das noch keine Rolle zu spielen. Da herrschte Goldgräberstimmung im Internet. Sobald die Leute auf deine Site kamen, rollte der Rubel. Werbung, ECommerce - keiner wusste so recht, wie es funktionieren sollte, aber alle waren sich einig, dass es funktionieren würde. Hätte Ninetyminutes damals schon das Stadium erreicht, in dem wir uns heute befinden, hätten wir alle zig Millionen.«
»Stimmt.«
»Aber die Welt hat sich verändert. Es zeigt sich, dass sich mit dem Internet kaum Geld verdienen lässt. Die Leute erwarten, dass es kostenlos ist. Die Sachen, die sie über das Internet kaufen, sollen billiger sein als im Laden. Werbetreibende wollen greifbare Resultate und machen keine Riesenbudgets locker für ein Medium, das seinen Nutzen noch nicht unter Beweis gestellt hat. Die Hoffnung auf das große Geld hat sich nicht erfüllt. Ninetyminutes ist praktisch gar nichts wert. Das begreift Guy nicht.«
»Worauf willst du hinaus?«
»Dass wir das erreicht haben, was wir uns vorgenommen haben. Wir verdienen nur nicht die Millionen, die wir uns erhofft haben. Ich denke, wenn wir schlau gewesen wären, hätten wir es schon damals begriffen. Du hast es wenigstens jetzt erkannt. Trotzdem finde ich, dass wir stolz sein können auf das, was wir erreicht haben. Wir alle: du, ich, Guy, Amy, Gaz, alle. Im Grunde ist es nicht unsere Schuld, dass sich das alles nicht so rechnet, wie wir gedacht haben,«
Ich begriff, was sie meinte. So gesehen war es durchaus keine Zeitverschwendung gewesen. Ganz und gar keine Katastrophe.
Ingrid hob ihr Glas. »Auf Ninetyminutes.«
»Auf Ninetyminutes.«
Wir tranken.
»Was fängst du jetzt an?«, fragte sie.
»Weiß nicht. Alle meine Ersparnisse stecken in Ninetyminutes. Die von meinem Vater auch. Ehrlich gesagt möchte ich nicht tatenlos zusehen, wie sie den Bach runtergehen.«
»Es geht dir nicht nur ums Geld, nicht wahr?«
»Wieso?«
»Ich glaube, es geht dir auch um Guy.«
»Ja, das stimmt.« Ich versuchte, es ihr zu erklären. »Als Guy mir seine Pläne für Ninetyminutes erläuterte, war das für mich nicht nur ein interessanter Job oder eine gute Anlagemöglichkeit, sondern die Aussicht auf ein neues Leben. Ein Leben, nach dem ich mich immer gesehnt hatte, aber zu dem ich nie den Mut gehabt hatte. Er sprach davon, etwas Neues zu schaffen, etwas Aufregendes,
Risiken einzugehen, die ausgefahrenen Gleise zu verlassen, den neuen Markt zu erobern. Er riss mich mit. Er gab mir den Glauben, dass ich ein neuer Mensch werden könnte. Und dann ... , dann hat er mich einfach fallen gelassen.«
»Aber wir haben doch gerade gesagt, dass der Absturz von Ninetyminutes nicht seine Schuld war.«
»Das ist es nicht. Wenn Guy und ich Ninetyminutes gemeinsam in einen spektakulären Untergang geführt hätten, wäre es nicht so schlimm gewesen. Klar, ich hätte ein bisschen Geld verloren, und für meinen Vater wäre es eine richtige Katastrophe gewesen, aber ich hätte das Gefühl gehabt, etwas geleistet zu haben. Ein anderer Mensch geworden zu sein, einer, mit dem ich hätte einverstanden sein können. Aber so .«
»Aber so? Ich verstehe nicht.«
Ich blickte Ingrid an. Das Versprechen, das ich Guy gegeben hatte, zählte nicht mehr. »Du weißt da ein paar Dinge nicht, die Guy betreffen.«
Dann erzählte ich ihr alles, was ich über Owen, Dominique und Abdulatif wusste - und über Guys Versuche, das alles zu vertuschen. Und ich sagte ihr, dass ich immer noch nicht wisse, ob Guy seinen Vater umgebracht hätte.
Gebannt hörte sie zu, zunächst ungläubig, dann verblüfft, schließlich ängstlich.
»Du siehst also, ich habe keine Ahnung, wer Guy ist«, sagte ich, als ich fertig war. »Ich weiß, dass er ein Lügner ist. Ich weiß, dass sein Bruder Menschen umbringt. Aber ich weiß nicht, ob auch Guy ein Mörder
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