Fatal Error
nicht. Was ist mit Guy?«
»Schläft. Woher kommen die denn?«, fragte ich mit Blick auf die Croissants.
»Von Miguel. Hier ist er schon.«
Da war er wirklich. »Orangensaft, Monsieur?«, fragte er, einen großen Krug in der Hand.
»Ja, bitte.«
Er goss mir ein Glas ein, und ich leerte es in einem Zug, wobei mir klar wurde, dass ich mich genau danach gesehnt hatte. Das kalte, süße Getränk brachte ein bisschen Linderung. Miguel begriff wortlos und füllte mein Glas ein zweites Mal.
Er bemerkte, dass Ingrids Glas fast leer war. »A senhorita aceita um pouco mais?«
»Sim, por favor.« Er schenkte ihr ein. »E o suficiente. Obrigada.«
»De nada.«
»Was, zum Teufel, war das denn?«, fragte ich, als er sich zurückzog.
»Miguel ist Portugiese«, sagte sie.
»Na klar, ich bin ja blöd.« Ich trank noch ein bisschen Saft. »Ich kann es einfach nicht fassen. Kannst du das? Ich meine, dass dir am Morgen jemand das Frühstück serviert und all das?« Ich hielt inne. Was wusste ich über Ingrids Herkunft? »’tschuldigung. Vielleicht bist du ja an so was gewöhnt. Wahrscheinlich habt ihr Dutzende solcher Häuser.«
Sie bemerkte mein Zögern und lachte. »Du hast vollkommen Recht. Das ist ein sehr schöner Besitz.«
»Wo wohnst du?«
»Das ist schwer zu beantworten. Und du?«
»Das ist ganz leicht. Northamptonshire. England. Wie kann die Antwort schwierig sein?«
»Du setzt voraus, dass man nur eine Familie hat. Ich habe mehrere. Und jede hat mehrere Häuser.«
»Hört sich gewaltig an.«
»Es nervt gewaltig.«
»Ah. Ingrid da Cunha, was ist das eigentlich für ein Name? Hört sich nach einer Insel vor der schwedischen Küste an.«
Ingrid lachte. Ein bisschen zu laut für meinen Kopf. »Genauso fühle ich mich auch. Eine Insel vor der schwedischen Küste. Vielleicht trifft das die Sache ganz gut. Genau genommen heiße ich Ingrid Carlson Da Cunha. Meine Mutter ist Schwedin, mein Vater Brasilianer. Ich wurde in London geboren, deshalb habe ich einen britischen Pass. Gelebt habe ich in Tokio, Hongkong, Frankfurt, Paris, Sao Paulo und New York. Broadhill war meine neunte und hoffentlich letzte Schule. Glaub mir, ich wäre froh, wenn ich sagen könnte, ich hätte die letzten achtzehn Jahre an einem einzigen Ort verbracht.«
Ich glaubte es ihr nicht. Für mich hörten sich ihre Familienverhältnisse ausgesprochen beeindruckend an. Ich rieb mir die Schläfen. »Wie lange dauert es, bis ein Kater vorbei ist?«
»Eine Woche, schätze ich.«
»Das ist nicht lustig. Wenn das eine Woche dauert, bin ich tot.«
Ingrid lächelte belustigt, wenn auch mit einer Spur Mitgefühl.
Dann erinnerte ich mich an das Gespräch, das ich in der Nacht zuvor mitgehört hatte. »Ich nehme an, du spricht viele Sprachen?«
»Ein paar.«
»Wie sieht es mit Französisch aus?«
»Sollte ich eigentlich können. Ich hatte Leistungskurs Französisch.«
»Weißt du, was gosse heißt?«
»Ja. Das ist Umgangssprache und bedeutet >Kind<.«
»Ach so. Und nur, um sicher zu sein, dass ich nichts in den falschen Hals bekommen habe: Baiser heißt doch >küssen<, oder?«
Ingrid lachte. »Früher mal. Heute nicht mehr.«
»Nicht mehr?« Plötzlich erinnerte ich mich an das Kichern, das Madame Renards Worterklärung vor zwei Jahren im Französischunterricht gefolgt war. »Himmel! Es heißt >vögeln<, stimmt’s?«
Sie nickte.
»Oh.« Das war weit schlimmer, als ich gedacht hatte.
Das Lächeln auf Ingrids Gesicht verflüchtigte sich. »Warum fragst du?«
»Ich hab es gestern Nacht gehört.« Ingrid blickte mich groß an.
»Hast du nichts gehört?«
»Nein«, sagte sie. »Aber ich nehme an, einige Leute haben nicht nur davon gesprochen.«
»Ja.«
Einen Augenblick saßen wir schweigend da.
»Also, wo hast du es gehört?«, fragte sie.
»Es war mitten in der Nacht. Wie du weißt, hatte ich ein bisschen zu viel getrunken, daher bin ich in den Garten gegangen, um etwas frische Luft zu schnappen. Ich hörte eine aufgeregte Stimme. Es war Dominique. Sie schrie Tony an: Salaud! Une gosse! Tu as baisé une gosse. ’<« Ich zögerte. Im Grunde genommen blieb nur ein Schluss.
Ich warf Ingrid einen Blick zu, mochte meinen Gedanken nicht aussprechen. Hatte sie es erraten? Schwer zu sagen. Ihr Gesicht war ausdruckslos. Aber sie sah mich ebenfalls an.
»Tony hat gestern Nacht mit Mel geschlafen, oder?«, fragte ich.
Sie nickte langsam.
»Ich kann es nicht glauben. Was für ein perverser Kerl!« Halbwüchsige glauben gern, in Sachen Sex
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