Fatal Error
lächerlich anzunehmen, er habe seine Stiefmutter umgebracht. Oder etwa nicht?
Ich kannte Guy seit vielen Jahren. Er war einer meiner Freunde. Als kaltblütigen Mörder konnte ich ihn mir einfach nicht vorstellen.
Oder war auch ich seinem Bann verfallen wie Mel und so viele Frauen vor ihr? Oder wie Torsten. Wie alle seine Freunde.
Ich dachte an den Flug vom Nachmittag. An die blinde Entschlossenheit, mit der er sich über alle meine Einwände hinweggesetzt und das Flugzeug diese Schlucht entlanggeflogen hatte, der sicheren Kollision mit dem Berg entgegen.
Kannte ich Guy wirklich?
Plötzlich fiel mir etwas ein. Der Fußabdruck vor Dominiques Fenster. Guys Fußabdruck. Im Gegensatz zu Mel, im Gegensatz zur französischen Polizei, wahrscheinlich sogar im Gegensatz zu Patrick Hoyle wusste ich, dass Guy ihn dort nicht auf dem Weg ins Bett hinterlassen hatte. Also wie, zum Teufel, war er dorthin gekommen?
Die Polizei hatte eine Theorie gehabt. Deshalb hatte sie Guy festgenommen. Und wenn diese Theorie nun
stimmte?
Ich blieb stehen und blickte auf den Sund hinaus. Wenige Schritte vor mir hörte ich die Wellen an die Küste schlagen. Ein einsames Auto fuhr vorbei und erhellte kurz die geriffelte Wasseroberfläche, um sie gleich darauf in noch schwärzerer Finsternis versinken zu lassen. Den Motor vernahm ich noch eine Minute lang, nachdem das Auto an mir vorüber war.
Ich war Guys Bann verfallen. Ich hatte gewusst, dass es geschah: Mehr als das, ich ließ es glücklich geschehen. In den letzten zwei Monaten hatte ich mehr Spaß gehabt als in der ganzen Zeit, seit ich arbeitete. Das Trinken, die langen Nächte, die Mädchen. Man ist nur einmal jung, man muss es genießen, solange es geht - das war Guys Motto, und ich machte es mir nur zu gern zu Eigen. Sein Leben erschien so viel abwechslungsreicher als meines. Ich beneidete ihn.
Wirklich? Mir fiel die Rückreise aus Frankreich ein, im Bus, als mir klar wurde, dass das Leben von Menschen wie Guy durchaus nicht so ist, wie es erscheint. Ich hatte die Lektion vergessen. Guys Vater war ein Mistkerl, das wusste ich. Wurde auch Guy allmählich zum Mistkerl? Er mochte ja ignorieren, wie er Mel behandelte, oder vorgeben, sie verdiene es, doch das hieß noch lange nicht, dass ich es auch tun musste. Seine Laufbahn als Schauspieler führte nirgendwohin. Sein Leben führte nirgendwohin. Wollte ich ihn wirklich auf dieser Reise begleiten?
Als ich das Hotel erreichte, blickte ich in die Bar, aber sie war, vom Hotelmanager abgesehen, leer. Ich dankte ihm, dass er Mel eine Bleibe besorgt hatte, und machte mich auf den Weg in mein Zimmer.
Auf der Treppe warf ich einen Blick auf den Schlüssel.
Zimmer 210. Tief in Gedanken ging ich den Flur entlang, steckte den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Tür.
Drei Dinge fielen mir auf.
Erstens, Zimmer 210 war nicht mein Zimmer.
Zweitens, Guy lag auf dem Bett in Zimmer 210, in inniger Umarmung mit einem Mädchen.
Drittens, das Mädchen war Ingrid.
Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Aus irgendeinem Grund beschäftigte mich vor allem die Frage, warum es nicht mein Zimmer war. Ich schaute auf den Schlüssel in meiner Hand. Irgendwie musste ich die Schlüssel vertauscht haben: Offenbar hatte ich meinen an der Rezeption abgegeben, als wir das Hotel verlassen hatten, und Mels behalten.
Dann blickte ich auf die beiden Gestalten auf dem Bett. Sie waren noch weitgehend angezogen. Ingrid setzte sich auf, zerzaust, mit übernächtigten Augen. Guy sah betroffen aus.
»Hör zu, Davo, das war nur Jux. Es ist nicht das Geringste passiert.«
Ich sah Ingrid an.
»Warum?«, fragte ich.
Ohne die Antwort abzuwarten, wandte ich mich um und verließ das Zimmer. Ich lief die Treppe hinunter und nahm meinen Schlüssel vom Brett hinter der Rezeption. Plötzlich konnte ich mich genau an die Nummer erinnern: 214. Ich stürmte die Treppe hoch und öffnete die Tür, obwohl meine Hände vor Wut so zitterten, dass ich den Schlüssel kaum ins Schloss bekam.
»Davo! Warte, Davo!«
Als ich mich umdrehte, sah ich Guy den Flur entlangkommen.
»Davo, es tut mir Leid, okay?«, sagte er und folgte mir in mein Zimmer.
»Verpiss dich, Guy!«
»Es war nichts. Es hat überhaupt nichts zu bedeuten.«
»Kann ich mir vorstellen, dass es dir nichts bedeutet.«
»Oder Ingrid«, sagte Guy.
»Ja. Pech, dass ich der Einzige bin, dem es was bedeutet.«
»Na, hör mal. Du bist schließlich nicht mit ihr zusammen. Und du hast gesagt, du bist dir noch nicht mal
Weitere Kostenlose Bücher