Fear
Race. Das hier ist Leons Stadt.«
17
Es war eine kühne Behauptung, wenn auch mit sanfter Stimme vorgetragen. Ehe Joe fragen konnte, wie sie das meinte, ließ ein lautes Klopfen sie beide zusammenfahren. Ein Mann stand an der Ausleihtheke – füllige Statur und Wohlstandsbauch, eine lederne Aktenmappe unter den Arm geklemmt.
»Unser Unruhestifter Nummer zwei«, murmelte Ellie mit leicht hämischem Unterton. »Mit ein bisschen Glück neutralisieren sie sich gegenseitig.«
Der Mann entdeckte Ellie und winkte sie zu sich. Gleich darauf fiel sein Blick auf Mr Bastian, den Beschwerdenschreiber, und er schien zurückzuschrecken.
»Stadtrat Rawle!«, rief Ellie. Beim Klang des Namens schreckte Bastian auf. Er erhob sich halb von seinem Stuhl und starrte den Stadtrat mit grimmiger Konzentration an. Dann zog ihn der angefangene Brief wieder zurück, und er begann wie wild auf die Tastatur einzuhacken.
Während Ellie und Rawle sich halblaut unterhielten, fiel Joe das steife, wichtigtuerische Gehabe des Mannes auf. Seine Körpersprache machte deutlich, dass er glaubte, Ellie lasse es am gebührenden Respekt vor seiner Person mangeln. Entweder das, oder er fühlte sich in Gegenwart einer attraktiven Frau unwohl.
Joe wandte sich dem PC zu und öffnete zwei Internetseiten. Auf der einen suchte er nach der Website der Muschelhöhle, auf der anderen rief er Hotmail auf und loggte sich in seinen Account ein.
Er hatte eine einzige neue Nachricht – vor zwei Tagen von seinem Bruder geschickt. Ihre Mutter hatte den ersten Zyklus der Chemotherapie hinter sich und hielt sich tapfer. Machte Witze darüber, dass sie sich, falls nötig, eine Perücke kaufen würde.
Joe hätte gerne geantwortet. Er war sich fast sicher, dass es unbedenklich wäre, dass seine Mail nicht zurückverfolgt werden könnte, dass niemand den Computer seines Bruders gehackt hatte. Zu neunundneunzig Prozent sicher.
Aber nicht zu hundert.
Also schickte er die E-Mail nicht ab. Er starrte auf den Bildschirm und fragte sich, ob er je wieder in einer normalen Welt mit unkomplizierten Beziehungen und offener Kommunikation leben würde.
Mit lautem Gepolter schob Bastian seinen Stuhl zurück und stand auf. Als ob ihm der Hut und der Mantel noch nicht genügten, schlang er sich nun auch noch einen Schal um den Hals. Widerlicher Schweißgeruch schlug Joe entgegen, als der Mann vorbeiging und auf Ellie und Rawle zusteuerte, geradezu zitternd vor Begierde, sie zu unterbrechen. Nach wenigen Sekunden trat Ellie zur Seite und erlaubte Bastian, sich dazwischenzuschieben. Seine einleitenden Worte waren so laut, dass die ganze Bücherei mithören konnte.
»Stadtrat Rawle, was das Protokoll der Sitzung des Finanzausschusses betrifft – vielleicht könnten Sie mich da aufklären, was gewisse Details …«
Als Ellie auf ihn zukam, wechselte Joe unauffällig von der Hotmail-Website auf die der Muschelhöhle. Ellie sah ihn an und grinste schelmisch.
»Rawle ist einer von denen, die regelrecht Spaß dran haben, mit dem Rotstift zu wüten. Soll er sich ruhig mal vor einem unserer engagiertesten Benutzer rechtfertigen.« Ihr Blick fiel auf die Website. »Vertrauen Sie der Broschüre nicht?«
»Es klingt faszinierend, aber …« Joe zuckte mit den Achseln. »Ich bin ein bisschen klaustrophobisch.«
»Oh, aber es ist sehr geräumig da unten. Und gut ausgeleuchtet.«
»Schon, aber es ist unter der Erde. Sie können mich in einen Schrank einsperren oder in eine Flugzeugtoilette – meinetwegen in einen großen Koffer –, ohne dass ich Probleme bekomme. Aber unter der Erde …« Er schüttelte den Kopf.
»Na ja, wenn Sie jemanden brauchen, der Ihnen die Hand hält …«
»Ich werde es mir merken.« Er hielt einen Moment inne. »Was haben Sie gemeint mit Ihrer Bemerkung über Leon Race?«
»Ach, nichts weiter.« Sie trat einen Schritt zur Seite und blickte sich um. »Er ist der Inhaber von LRS, das ist alles.«
»Aber er ist ziemlich wichtig?«
Ellie nickte. Wieder sah sie hinter sich. Rawle wurde immer noch von dem kritischen Bürger bedrängt. Das Entsetzen malte sich in seinem Gesicht, als er sich rückwärts in Richtung Ausgang bewegte.
»Hartnäckig wie eine Bulldogge, Ihr Mr Bastian«, bemerkte Joe.
»Ja. Er bildet sich einiges darauf ein, dass er unsere gewählten Amtsträger zur Rechenschaft zieht.«
»Irgendjemand muss es ja tun«, meinte Joe. »Aber dann ist es Leon Race, der hier eigentlich die Macht hat?«
»Also, dazu möchte ich nicht mehr sagen.« Ein
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