Feenring (German Edition)
Händen umspannt. »Was geschah, nachdem ihr Ninurta begraben hattet?«
Den Blick noch immer auf irgendwas am Ende der Straße gerichtet, entgegnete er: »Una ließ sich von Schuldgefühlen überwältigen. Unser Fluch hatte sich ausgebreitet, ehe wir wussten, wie wir uns mithilfe von Zauberkunst und Hexerei beherrschen konnten. Sie war überzeugt, dass unsere Nachkommen die Welt vernichten würden. Für sie ermordete ich, um unseren Fehler zu korrigieren, sowohl Vampire als auch Wære. Doch das Blutvergießen verschaffte ihr keinen Frieden. Also versuchte ich, ihre Albträume mit Küssen zu vertreiben, aber sie fand in meinen Armen keinen Trost, der es mit ihrer Reue hätte aufnehmen können.« Er ließ einen prüfenden Blick über die Fahrbahn schweifen, der ihn endlich zu mir zurückführte. »Unas dunkles Haar wurde grau. Mir war klar, dass sie alt werden und schließlichsterben und so von ihrer Schande erlöst werden würde, und ich war froh darüber. Aber ich musste miterleben, wie sie starb und sie eigenhändig begraben. Seitdem bin ich allein geblieben.«
Was er durchgemacht hatte, erfüllte mich mit tiefer Anteilnahme. »Du bist nicht allein.«
Er hielt mir den Ellbogen hin. »Nimm meinen Arm, Persephone, damit es weitergeht.«
»Hmmm.«
»Ein hiesiges Motto.« Er lachte. »Weiter geht’s – zu einem Viertel an der Vierten, wo es viele Restaurants gibt. Man kann zwar nicht mehr draußen essen, aber die Einheimischen gehen trotzdem weiter dorthin.«
Ich ließ ihn vorgehen. Meine Gedanken kreisten um seine Erzählung, ohne dass ich darauf achtete, wo wir hingingen. Als wir über eine verkehrsberuhigte Straße schlenderten, kehrte meine Aufmerksamkeit ins Hier und Jetzt zurück. Menessos führte mich an mehreren Veranstaltungsorten vorüber, darunter eine Kleinkunstbühne. Schließlich schob er mich in eine malerische Backsteingasse.
Über unseren Köpfen zuckte bunte Festbeleuchtung. Unter der nächsten Feuerleiter, an der ein Schild mit der Aufschrift »Zócalo – Mexican Grill & Tequilería« hing, stand ein Stehpult.
Die Empfangsdame führte uns durch den hell erleuchteten Raum zu einem Tisch bei einem schönen Eisengeländer, legte uns Speisekarten hin und verschwand. Wir nahmen Platz. Überall baumelten bezaubernde Messinglaternen. Eine Wendeltreppe führte zu weiteren Tischen und zur Küche. Ein sehr netter Laden.
Da saß ich nun mit einem echten Vampir in einem Restaurant in Cleveland, Ohio.
Ich schlug die Karte auf und versenkte mich in die kunstvoll beschrifteten Seiten wie in ein Kunstwerk. Auf den Sinn der Worte konnte ich mich indes nicht konzentrieren.
Seine Muttersprache war das Akkadische, das vor Jahrtausenden im alten Babylon gesprochen wurde, und er lebte immer noch, unberührt von der Zeit, als wäre er kaum älter als dreißig.
Ich gab mir einen Ruck, widmete mich der Karte und tadelte mich für den Verdruss, mir Sorgen darum zu machen, ob »danach nichts mehr so sein könne, wie es mal war«. Menessos konnte die Uhr auch nicht zurückdrehen, und ich fragte mich, ob er je den Wunsch dazu verspürt hatte.
Wie ging er damit um?
»Alles in Ordnung?«
»Ja. Warum?«
»Weil du deine Speisekarte so seltsam fixierst.«
Ja, wenigstens beim Essen hatte ich eine Wahl. »Erzähl mir etwas über die Feen, mit denen wir es zu tun bekommen.«
»Das hat Zeit.«
»Aber wir müssen Pläne schmieden.«
»Pläne macht man am besten mit vollem Magen – und deiner ist leer – , und damit auch was daraus wird, sollte man im Geheimen planen.«
Ich legte die Karte hin und sah ihn fragend an.
Die Bedienung fasste meine Haltung als Zeichen auf und nahm meine eilige Bestellung auf: Cola light und Chili Relleno.
Das walnussfarbene Haar des Vampirs schimmerte im Neonlicht über dem Tresen rötlich. Sein Vollbart gab seinem Gesicht, dem eckigen Kinn, Balance und verlieh ihm etwas Geschichtsträchtiges, als gehöre er eigentlich in die Ritterrüstungen längst vergangener Zeiten. In Wirklichkeit lag seine Zeit noch viel länger zurück. Als er die Bar musterte, fiel das rote Neonlicht auch auf seinen Vollbart, der darauf wie mit Blut getränkt wirkte. »Hinter dem Tresen steht ein Wærwolf«, flüsterte er. »In der Küche unten arbeitet auch einer. Riechst du sie?«
Ich witterte. »Jetzt, wo du’s sagst … « Ich hatte den Geruch als den der Kanthölzer im Theater durchgewinkt. Doch hier roch es eindeutig anders. Ein unterschwelliger Geruch mischte sich mit dem Aroma leckerer Speisen.
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