Feenzorn
Reisemöglichkeiten kaum noch verlassen können. Wir brauchen unbedingt sichere Wege durchs Niemalsland, sonst werden wir bald von einem Gegner angegriffen und überwältigt, der sich in der Welt viel schneller bewegen kann als wir. Aus diesem Grund haben wir Gesandte zu beiden Königinnen der Sidhe geschickt. Ehrwürdige Mai?«
Links neben Merlin stand eine Angehörige des Ältestenrats an ihrem Podium, bei der es sich vermutlich um die Ehrwürdige Mai handelte. Sie war eine winzige Frau asiatischer Herkunft mit zarter, heller Haut und granitgrauem Haar, das sie zu einem langen Zopf geflochten und mit einigen Jadekämmen im Nacken festgesteckt hatte. Ihren zarten Gesichtszügen hatte der Lauf der Zeit nicht viel anhaben können, nur ihre dunklen Augen blickten ein wenig rheumatisch. Sie entfaltete einen auf Pergament geschriebenen Brief und las ihn mit heiserer, aber fester Stimme vor. »Vom Sommerhof haben wir die folgende Antwort bekommen: ›Königin Titania wird jetzt nicht und niemals in der Zukunft in einem Streit zwischen Sterblichen und Menschenfressern Partei ergreifen.‹ Sie bittet den Rat und den Hof, ihren Krieg vom Reich des Sommers fernzuhalten. Sie wird neutral bleiben.«
Ebenezar runzelte die Stirn und beugte sich vor. »Und der Winterhof?«
Ich zuckte zusammen.
Die Ehrwürdige neigte den Kopf und betrachtete Ebenezar einen Augenblick schweigend. Anscheinend fand sie die Unterbrechung unhöflich. »Unser Kurier ist nicht zurückgekehrt. Die Konsultation der Aufzeichnungen zu früheren Konflikten lässt uns vermuten, dass Königin Mab sich, falls überhaupt, zu einer Zeit und auf eine Weise einschalten wird, die vor allem ihren eigenen Zielen dient.«
Wieder zuckte ich zusammen. Auf dem Tisch stand ein Krug Wasser mit einigen Gläsern. Ich schenkte mir etwas ein, und der Krug stieß mit einem leisen Klirren gegen das Glas. Als ich aufschaute, betrachtete Blaubart mich nachdenklich.
Ebenezar machte ein finsteres Gesicht. »Was soll das jetzt bedeuten?«
Der Merlin schaltete sich gewandt ein. »Es bedeutet, dass wir unsere diplomatischen Bemühungen dem Winterhof gegenüber fortsetzen müssen. Wir müssen um jeden Preis die Kooperation einer Königin der Sidhe gewinnen oder wenigstens verhindern, dass der Rote Hof ein Bündnis mit ihnen schmiedet, solange dieser Konflikt nicht beigelegt ist.«
Martha Liberty zog die Augenbrauen hoch. »Beigelegt?«, erwiderte sie ironisch. »Ich hätte ein Wort wie ›erledigt‹ bevorzugt.«
Der Merlin schüttelte den Kopf. »Magierin Liberty, es ist nicht wünschenswert, dass dieser Konflikt eine noch zerstörerischere Wendung nimmt. Wenn überhaupt eine kleine Aussicht besteht, einen Waffenstillstand zu erreichen…«
Hart und kalt unterbrach die schwarze Frau den Merlin. »Fragen Sie doch mal Simon Pietrowitsch, wie sehr die Vampire daran interessiert sind, eine friedliche Einigung zu erzielen.«
»Zügeln Sie Ihre Emotionen«, erwiderte der Merlin ruhig. »Pietrowitschs Tod schmerzt uns alle sehr, trotzdem dürfen wir uns von diesem Verlust nicht blenden lassen, denn dann würden wir mögliche Lösungen leicht übersehen.«
»Simon kannte sie«, erwiderte Martha tonlos. »Er kannte sie besser als jeder andere unter uns, und dennoch konnten sie ihn töten. Glauben Sie wirklich, sie werden sich auf einen annehmbaren Friedensschluss mit uns einlassen, nachdem sie bereits den Magier vernichtet haben, der besser als jeder andere fähig war, sich vor ihnen zu schützen? Warum sollten sie einen Friedensschluss anstreben? Sie sind dabei zu gewinnen.«
Der Merlin winkte ab. »Ihr Zorn trübt Ihr Urteilsvermögen. Der Rote Hof wird sich auf einen Frieden einlassen, weil er für seinen Sieg einen zu hohen Preis zahlen müsste.«
»Seien Sie kein Narr«, widersprach Martha. »Die Vampire werden nie um Frieden bitten.«
»Aber«, antwortete der Merlin, »genau das haben sie bereits getan.« Er winkte zum zweiten Pult zu seiner Linken. »Magier LaFortier, bitte.«
LaFortier war ein ausgemergelter Mann von mittlerer Größe, dessen Wangenknochen grotesk aus seinem eingefallenen Gesicht hervorstachen und dessen vorstehende Augen ein paar Nummern zu groß waren. Er hatte überhaupt keine Haare, nicht einmal mehr Augenbrauen, und wirkte insgesamt wie ein Skelett. Doch als er sprach, war seine Stimme ein wohlklingender Bass, tief, warm und fließend.
»Danke, Merlin.« Er hob mit seinen dürren Fingern einen Umschlag. »Ich habe heute Morgen eine Botschaft von
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