Feind des Feindes
er als erstes die hell erleuchtete Basiliuskathedrale, als hätte er sie instinktiv gesucht.
Er erweckte den Eindruck, als wollte er nicht direkt zu der Kirche hinübergehen. Statt dessen entschloß er sich, um die ganze Mauer herum zu gehen, und überquerte die Straße, da es schon spät war und nur wenig Verkehr herrschte. Eventuelle Verfolger konnten ihn beim Überqueren der Straße nicht übersehen. Durchgezogene Linien auf der Fahrbahn ließen erkennen, daß er eigentlich den Fußgängertunnel hätte benutzen müssen. Er bereute seine Unvorsichtigkeit schon, als er auf der anderen Seite ein paar rauchende Polizisten in hellblauen Hemden entdeckte, doch sie würdigten ihn keines Blickes.
Anschließend ging er durch den Alexanderpark und kam an dem Grab des Unbekannten Soldaten vorbei, wo in der Mitte des fünfzackigen Sterns eine blauschimmernde Flamme emporloderte. Plötzlich war er nur noch von wenigen Menschen umgeben. Vielleicht lag es an der Hitze oder an der späten Stunde.
Hinter der ewigen Flamme standen große schwarze Steinkisten mit Namen sowjetischer Städte. Er buchstabierte sich durch Smolensk, Kiew, Leningrad, Stalingrad und eine sehr lange Reihe weiterer Städte hindurch, bis ihm aufging, daß diese Kisten keine Bänke zum Sitzen waren, sondern vermutlich Sarkophage mit den Überresten von Toten aus den genannten Städten.
Unten an der Moskwa und der hohen Mauer war er plötzlich vollkommen allein. Er bewegte sich noch immer möglichst auffällig, bemühte sich, sich nicht umzusehen, und ging sehr langsam, als wäre er ein flanierender Spaziergänger.
Was er ja auch war; er ertappte sich dabei, Wirklichkeit und Theater zu verwechseln, als glaubte er nicht einmal selbst an das, was er tat. Als er eine Weile im Halbkreis am Fluß entlang weitergegangen war und die Umrisse der Basiliuskathedrale im Gegenlicht der Scheinwerfer auftauchen sah, war sein Umweg zu Ende. Er ging auf dem Bürgersteig an der Mauer ein Stück bergauf und betrachtete die Kathedrale, die fast fünfzig Meter vor ihm aufragte, einer der bekanntesten Anblicke der Welt. Da Carl das Bauwerk von vielen Fotos her kannte, hatte er das Gefühl, einen altvertrauten Anblick vor sich zu sehen. Doch jetzt konnte er sogar die einzelnen Ziegelsteine sehen. Das Mauerwerk war nicht verputzt, und das Rot der Kirche war einfach Klinker.
Plötzlich schrie ihn ein Wachposten an.
Carl blieb stehen, streckte die Arme zur Seite und rührte sich nicht mehr. Dann ging ihm auf, daß es nicht ernst war. Er war bei dem großen Einfahrtstor des Kreml angelangt, und einen Meter vor ihm hing eine schwere eiserne Kette als Absperrung. Er entschuldigte sich durch ein Handzeichen bei dem Wachposten und ließ erkennen, daß er um die Absperrung herumgehen würde. Er entfernte sich ein wenig von der Kirche, blieb dann stehen und blickte zu den vielfarbigen Zwiebelkuppeln hoch. Dann überquerte er den Platz.
Er schwitzte heftig, obwohl er sehr langsam gegangen war. Der Rote Platz war völlig menschenleer, und Carl hatte das Gefühl zu träumen.
Das Rot der großen fünfzackigen Neonsterne hielt er für eine sehr gelungene, warme, glänzende Farbe.
Es war verrückt. Dies war tatsächlich der Rote Platz, und er stand tatsächlich mitten auf dieser riesigen Fläche aus Kopfsteinpflaster mit schnurgeraden Farbmarkierungen, die vermutlich für die Aufmärsche gedacht waren.
Zwei Menschen befanden sich in Sichtweite. Sie hielten vor dem Leninmausoleum Wache. Er ging zu ihnen hinüber und blieb in ein paar Meter Entfernung vor der Eisenkette stehen.
Die beiden versuchten, vollkommen still zu stehen, was unmöglich schien. Die beiden sahen jung aus, aber Carl erkannte an ihren Rangabzeichen, daß es keine gewöhnlichen Soldaten waren, sondern irgendwelche Kadetten.
Sie standen links und rechts vor der Tür, die zu dem ausgestopften und einbalsamierten Lenin führte, der dort drinnen in einer Glasvitrine lag.
Vor ihnen stand ein einsamer Tourist, der ihre Uniformen und ihre blankpolierten Bajonettspitzen betrachtete, und dieser einsame Tourist war ihr Feind.
Im hohen Turm mit dem schwarzen Zifferblatt ertönte ein Glockenschlag, und als er in diese Richtung blickte, entdeckte er, wie sich die Ablösung mit einer Art deutschem Stechschritt näherte.
Kurze Zeit später waren die beiden Wachposten nach allerlei tiefernstem Herumgestampfe und Exerzieren abgelöst und marschierten mit dem gleichen Stechschritt weg.
Und diese ganze Wachablösung für einen
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