Feind des Feindes
Felsen ist gut, wenn man an sonnigen Tagen baden will, aber hier kann man besser sitzen und essen«, erwiderte Carl mechanisch, wenn auch höflich.
Sie setzten sich auf einen der gespaltenen Baumstämme, die um den groben Eichentisch und die mit Steinen ausgelegte Feuerstelle standen. Das Licht sickerte durch Eschenlaub und hohe Haselsträucher. Hinter ihnen war das Meer, eine weiche, einschläfernde Dünung. Es herrschte eine schwache Brise.
»Du glaubst auch nicht, daß die Russen sonderlich rachsüchtig sind oder so etwas?« fragte Carl, als erhoffte er fast das Gegenteil.
»Nein, es paßt nicht zu Glasnost und Gorbatschow und all dem. Unter Stalin hätten wir uns nie auf ein derart freches Ding eingelassen, aber hat Sam das nicht schon alles mit dir besprochen?« erwiderte der Alte eher unbeteiligt.
»Aber ja. Es ist alles besprochen«, erwiderte Carl im gleichen Tonfall.
Es hatte den Anschein, als wäre Carl mit seinen Gedanken ganz woanders. Der Alte holte Luft und streute mit voller Absicht Salz in die Wunden.
»Traurige Geschichte. Soviel ich gehört habe, waren es ziemlich üble Verhöre«, sagte er vorsichtig und mit einem fast neutralen Tonfall, als spräche er von etwas Alltäglichem.
»Danke, ich weiß Bescheid«, schnitt ihm Carl das Wort ab. Der Alte machte eine Pause. Dann folgte der nächste Zug.
»Sandström wird uns so etwas jederzeit wieder antun können, dir oder mir. Nun ja, mir vielleicht nicht, aber vielen anderen. Solange er dort arbeitet - und das können durchaus zehn bis fünfzehn Jahre sein - werden wir derlei wohl ertragen müssen.«
Der Alte seufzte, als dachte er über etwas sehr Bedauerliches nach. Carl zögerte mit der Antwort, fast als wäre er schon mißtrauisch geworden, als spürte er instinktiv, wie das Ganze enden würde.
»Ich werde diesen Scheißkerl auf jeden Fall fotografieren. Könnte man ihn anschließend nicht einfach bei lebendigem Leib verbrennen?«
»Du meinst, wir sollten sein Bild der Presse zuspielen?«
»Genau.«
»Es wäre sicher eine wirksame Methode, ihn lebendig zu verbrennen, lustiger Begriff. Es geht aber nicht.«
»Warum nicht?«
»Die Regierung. Sorman und alle diese Typen.«
»Die würden es nie erlauben?«
»Natürlich nicht. Politik, auswärtige Beziehungen und all das. Du kennst das doch.«
»Ein bißchen zusätzliches Geld ist also alles, was wir mit diesem Foto von ihm erreichen können?«
Jetzt beschloß der Alte, zum entscheidenden Stoß anzusetzen. Er holte tief Luft, bevor er begann.
»Mein junger Herr Fregattenkapitän, wie die Russen sagen würden, ich darf dich daran erinnern, daß du zu einem Verband gehörst, der in ständiger Alarmbereitschaft lebt. Für uns gibt es keinen Frieden oder sonst etwas zwischen Krieg und Frieden, wir befinden uns immer im Krieg.«
Carl machte ein Gesicht, als ahnte er schon, was folgen würde, doch der Alte fuhr genauso fort, wie er es sich in der Nacht zurechtgelegt hatte.
»Magst du Poesie?« fragte er abrupt.
»Nein. Seit der Schulzeit hab ich so etwas nicht mehr gelesen«, erwiderte Carl genauso knapp.
»Gut«, sagte der Alte. »Ich werde dir jetzt ein Gedicht vorlesen, das mir während meiner gesamten beruflichen Laufbahn mehr bedeutet hat als alle Texte oder Berichte, die ich gelesen habe. Es stammt von einem unserer Nobelpreisträger und ist 1940 gedruckt worden. Ja, so steht es im Buch, aber es dürfte ein Jahr vorher geschrieben worden sein, also schon 1939.«
Und dann schlug der Alte das Buch an einer Stelle auf, an der ein Lesezeichen steckte.
»Das Gedicht heißt ›Neue Waffen‹«, sagte er kurz.
Er wartete ein Rauschen in den Eschenkronen über ihnen ab, und las dann langsam und ein wenig schwerfällig vor, wie es der Text erforderte. Die entscheidende Stelle lautete:
»Nur der Irre glaubt, das Gute sei nicht dazu geboren, ein Schwert zu tragen, wenn das Böse eine ganze Welt mit Blut besudelt.
Sei gewiß! Wenn du nicht bereit bist, mit dem Schwert für deinen Glauben einzutreten, wird kein Morgenstern je eine neue Zeit einläuten.«
Der Alte klappte das Buch zu und wartete. Jetzt war Carl am Zug. Dieser saß stumm da und blickte mit mahlenden Kiefern zu Boden. Der Alte konnte nicht erkennen, in welche Richtung er dachte, möglicherweise deshalb, weil Carls Gedanken in mehrere Richtungen zugleich liefen.
»Pär Lagerkvist, wenn ich nicht irre?« fragte Carl schließlich mit heiserer Stimme.
»Ja, das stimmt«, bestätigte der Alte vorsichtig.
»Ist das ein
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