Feind des Feindes
ausdrücklicher Befehl?« fragte Carl mit einem unerwartet ruhigen Tonfall.
»Ja. Einer meiner letzten. Wenn du wieder nach Hause kommst, werde ich schon in Pension gegangen sein«, erwiderte der Alte mit trockenem Mund.
»Ist das alles?« fragte Carl ebenso ruhig wie zuvor.
Der Alte fühlte sich ein wenig nervös. Er konnte Carls Reaktionen noch immer nicht deuten.
»Ja, mit einer einzigen Einschränkung«, sagte der Alte schließlich, der sich mit der Zunge im Mund herumfuhr, um weitersprechen zu können. »Die Einschränkung… liegt darin, daß du Sam erst berichten darfst, wenn du nach Hause gekommen bist.«
Carl malte mit einem Zweig etwas in den Sand, das wie ein Kreis aussah.
Dann blickte er mit seinen blauen Augen hoch und betrachtete den Alten eine Weile mit einem Ausdruck, der eher wehmütig als ängstlich war.
»Befehl verstanden. Ich werde ihn ausführen«, sagte er.
Der Alte wagte es nicht, einen Seufzer der Erleichterung hören zu lassen, und wurde überdies von höchst widersprüchlichen Gefühlen heimgesucht. Schließlich spürte er, daß er doch etwas sagen mußte.
»Die Tatsache, daß du keine Waffen bei dir haben darfst, bedeutet das eine Schwierigkeit, gegen die wir möglicherweise etwas unternehmen können?« fragte er und verfluchte sofort seine Bürokratensprache, die nicht zu der feierlichen Stimmung paßte.
Carl sah ihn forschend, fast amüsiert an. Dann erwiderte er, während er sich gleichzeitig erhob.
»Nein, ganz und gar nicht. Wir haben ja nicht von einem technischen, sondern einem moralischen Problem gesprochen.« Carl ging ohne ein weiteres Wort zum Haus hinauf. Der Alte holte ihn ein, worauf sie fast den ganzen Weg durch die Reihen der Apfelbäume schweigend weitergingen, bis Carl wieder etwas sagte.
»Du mußt entschuldigen, aber ich muß nach Stockholm. Ich habe noch nichts über diesen Sandström gelesen. Ich muß diesen Scheißkerl jetzt kennenlernen«, sagte er leichthin, als gäbe es für ihn von nun an nur kleine praktische Probleme.
Der Alte kam zu dem Schluß, daß er aus Carl nicht mehr schlau wurde.
MOSKAU
1
Die Hitzewelle war ein guter Vorwand. Den Zeitungen zufolge war es in keinem August seit annähernd hundert Jahren in Moskau so heiß gewesen. Folglich konnte er Jeans und ein kurzärmeliges Baumwollhemd tragen statt eines Anzugs, und bei diesem Wetter war es überdies natürlich, ein paar Stunden in den kühlen Gewölben der U-Bahn zu verbringen.
Er achtete sorgfältig darauf, daß er sich immerzu nur langsam und gut sichtbar bewegte, gelegentlich auf den Bahnhöfen stehenblieb, auf den Bahnsteigen auf und ab ging und sich aufrichtig beeindruckt zeigte, beeindruckt von Marmor, geschliffenem Granit, Kristalleuchtern und Malereien, die mal heroische Momente in der Geschichte der Sowjetmacht und mal Rußlands große Schriftsteller und Dichter zeigten.
Er hatte ständig den Stadtplan in der Hand und bemühte sich, wie ein Tourist auszusehen, was schwieriger war, als er gedacht hatte. Von den acht Millionen U-Bahnpassagieren, die jeden Tag durch das System mit seinen hundertsechsunddreißig Bahnhöfen geschleust wurden, schienen mindestens eine halbe Million junge Männer Jeans zu tragen.
Im Lauf von zwei Stunden wurde er nicht weniger als dreimal nach dem Weg oder nach einer Umsteigemöglichkeit gefragt.
Die Züge kamen in dichter Folge, meist im Vier-Minuten-Takt, und auf den Umsteigebahnhöfen bewegten sich die Menschen sehr schnell. Immer wieder wurde er von Leuten überholt, die es eilig hatten.
Hier war es unmöglich, jemanden zu verfolgen, der nicht verfolgt werden wollte.
Eines schönen Tages oder Abends würde er hier in dem unendlichen, wogenden Menschenmeer verschwinden, das in unzählige Richtungen unterwegs war, und bis zur Endstation der Kaluschko-Rischkaja-Linie fahren.
Der einzige Nachteil waren acht Bahnhöfe auf derselben Linie nach dem Umsteigen beim Prospekt Mira.
Da sich die Tschekisten im Westen selbst immer der U-Bahn bedienten, würde er erhebliches Mißtrauen erregen, wenn er sich allzu oft beim U-Bahnfahren blicken ließ. Er würde sie mindestens eine Woche lang meiden. Im Augenblick war die Hauptsache, daß sie ihn nicht verloren, falls sie ihn tatsächlich verfolgten.
Er war von der Botschaft in der Mosfilmowskaja langsam zur Universität auf den Leninbergen hochgegangen. Dort sah er die unvermeidlichen Brautpaare, die sich vor der Kulisse der Stadt fotografieren ließen, und genoß selbst eine Zeitlang, auf die
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