Feind des Feindes
steinerne Balustrade gestützt, die Aussicht. Der Wärmedunst und die Dämmerung verschlechterten die Sicht, aber er konnte mühelos die großen roten fünfzackigen Sterne unten beim Kreml sehen.
Die Menschen um ihn herum sahen jung und glücklich aus; es waren fast ausschließlich Brautpaare mit ihren Freunden. Carl grübelte darüber nach, warum man hier kaum Schwiegereltern sah, und beschloß, jemanden in der Botschaft danach zu fragen. Anschließend schlenderte er zum U-Bahnhof der Universität, faltete demonstrativ seinen Stadtplan auseinander und studierte ihn, bevor er mit einem Zug der Kirow-Frunse-Linie losfuhr.
In Frunse lag eine der sowjetischen Militärakademien, an der man unter anderem die künftige Elite des GRU ausbildete.
Die U-Bahnwagen waren genauso sauber wie die Bahnhöfe. Die Sitze waren angeordnet wie in der New Yorker U-Bahn, obwohl die Schmierereien und Graffiti hier ebenso fehlten wie die bedrohliche, wachsame Stimmung New Yorks. Die meisten Menschen, die allein fuhren, lasen Bücher oder Zeitungen, und Puschkin oder Gogol waren genauso oft vertreten wie die Sportseiten.
Carl empfand es schon bald als schwierig, sich als Feind dieser Menschen zu fühlen. Er tat sein Bestes, den Grund für seinen Aufenthalt in ihrer Stadt zu verdrängen. Er war ihr Feind. Er war der Feind der fröhlichen jungen Menschen dort oben auf den Leninbergen, er war der Feind des alten Mannes mit seinen Auszeichnungen aus dem Großen Vaterländischen Krieg, der ihn etwas fragte, was er nicht beantworten konnte, er war der Feind all der bücherlesenden U-Bahnreisenden und natürlich auch der Feind aller Männer in Uniform, die einen höchst auffälligen Teil des Menschengewimmels bildeten. Mindestens die Hälfte der Offizierskollegen, denen er begegnete, waren ihm übergeordnet, als wäre in Moskau Major der niedrigste Dienstgrad. Das mußte etwas mit Moskaus Stellung als Zentrum sämtlicher Stäbe zu tun haben; diese Männer waren also überwiegend Schreibtischkarrieristen, was sich auch an ihren Uniformen ablesen ließ, deren linke Brustseite meist auffallend leer war.
Eine kleine Gruppe arroganter Fallschirmjäger, die ihre blauen Baskenmützen anders als die Amerikaner tief in den Nacken geschoben hatten statt in die Stirn, trugen einige Auszeichnungen, die erkennen ließen, daß sie sich im Kampf ausgezeichnet hatten.
Also Afghanistan.
Fallschirmjäger in Afghanistan, das bedeutete Supermacht gegen einfach bewaffnete Bauernjungen.
Als er an der Turgenjewskaja angekommen war und zur Kirowskaja umsteigen wollte, lief ein Zug ein, der so hielt, daß das Staatswappen der Sowjetunion an der Wagenseite direkt vor ihm landete.
Er starrte wie verhext. Dieses Wappen war das erste gewesen, was er bei seiner Ankunft am Vormittag auf der Schirmmütze des Offiziers am Flughafen bemerkt hatte, der seinen Paß lange, aufmerksam und mit ausdruckslosem Gesicht geprüft hatte.
Bisher hatte er gedacht, die Karte im Staatswappen stelle die Sowjetunion dar. Aber hier, direkt vor ihm, sah er an der fast militärisch grünen Seite des U-Bahnwagens, daß die Karte die Erdhälfte zeigte, die aus Sowjetunion, Afrika und Europa besteht. Nordamerika war oben im Nordwesten nur winzig angedeutet.
Zwei geschwungene Getreidegarben umschlossen die Welt, diese besondere Welt, und dort, wo sie sich am oberen Ende des Kreises begegneten, saß natürlich der rote fünfzackige Stern, und darüber die Abkürzung CCCP.
Was ihn verhexte, war der Mittelpunkt des Bildes. Direkt im Zwischenraum zwischen Hammer und Sichel lag Schweden, fast genau in der Bildmitte. Der Hammer ruhte auf Nordnorwegen, und ganz Skandinavien lag in dem umschlossenen Zentrum.
Der Zug fuhr an. Carl blieb noch einige Augenblicke stehen. Er hatte noch das Bild vor Augen und war überzeugt, sich nicht geirrt zu haben.
Dann begab er sich langsam und auffällig zum Übergang zur Kirowskaja und stellte zu seinem Entzücken fest, daß die Station vor seinem Zielbahnhof Dserschinskaja hieß. Folglich fuhr die U-Bahn unter dem Dserschinskiplatz, direkt unter dem KGB-Gebäude.
Als er am oberen Ende der langen Rolltreppe mit ihren unzähligen Lampen ankam, schlug ihm eine Hitzewelle entgegen. Er blickte scheinbar hilfesuchend auf seinen Stadtplan und besah sich zögernd die Hinweisschilder, bis er tatsächlich und wie selbstverständlich einen Pfeil entdeckte, der den Weg zum Roten Platz wies.
Als er auf die Straße trat und den Fuß auf den weichen Asphalt setzte, entdeckte
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