Feind des Feindes
des Systems speichenförmig angeordneter Boulevards, die zu dem inneren Ring hinausführten. Die sieben hohen Stalintürme waren hervorragende Orientierungsmarken.
Wahrscheinlich observierten sie ihn bei diesen scheinbar planlosen Fahrten, die immer im Kreis herumführten. Wahrscheinlich wurden sie mißtrauisch bei dem, was sie sahen, und aus diesem Grund würde er seinen Wagen nicht benutzen, wenn es soweit war, sondern die U-Bahn. Er würde erst mit dem Wagen in die Außenbezirke fahren, um ihn dann schnell zu verlassen und mit der U-Bahn weiterzufahren.
Wenn sein eigener Wagen eintraf, würden sie ihn wahrscheinlich mit einem kleinen Minisender ausstatten, um ihn überall orten zu können.
Möglich war aber auch, daß sie seine ziellosen Fahrten als Ausdruck seiner Ruhelosigkeit und der Neugier auf seine neue Umgebung betrachteten.
Da er den Wagen ohnehin immer erst in die Botschaft zurückfahren mußte, bevor er sich in die Stadt begab, um dem Alkohol zu verfallen, ging er auch viel spazieren.
Als Fußgänger gewinnt man einen völlig anderen Eindruck von der Stadt. Die Architektur strahlt Macht aus und macht den Fußgänger klein. Komischerweise fühlt man sich als Lebewesen auf einer der großen Straßen Moskaus kleiner als in Manhattan, obwohl die Moskauer Häuser nur selten höher sind als sieben Stockwerke. Carl brauchte etwas Zeit, um den Grund dafür zu erkennen.
Erstens sind die Straßen überproportional breit. Man kann sie nie zu Fuß überqueren, sondern muß immer an irgendeiner Straßenecke nach einer Fußgängerunterführung suchen. Zweitens ist der Abstand zwischen der Straßenebene und den ersten Stockwerken der Häuser so groß, daß man glauben könnte, hier würden Riesen wohnen.
Der schüttere, aber sehr schnelle Verkehr zwischen den Häusern bewirkt ebenfalls eine Vergrößerung der Abstände und vermittelt den Eindruck, daß gerade die Fußgänger, die überwältigende Mehrheit der Bürger Moskaus, zahlenmäßig reduziert erscheinen.
Etwa so funktionierte die Psychologie. Eine andere Frage war natürlich, ob dieser Effekt beabsichtigt war.
Der Gegensatz dazu ließ sich jedoch ebenfalls finden. Nicht weit von dem teutonisch wirkenden weißen Marmorgebäude des Generalstabs am U-Bahnhof Arbatskaja liegt die Arbatskij-Straße, der Sammelpunkt für Moskaus Straßenkünstler. Es ist eine Fußgängerstraße, auf der die Moskauer Bevölkerung herumwimmelt und sich die Protestsänger ansieht, die er selbst eher als drittklassige Punkrocker einstufte. Er konnte nicht verstehen, was die Proteste und die gutgespielten Aggressionen in ihrer Musik bedeuteten, dazu war sein in einem Schnellkurs herausgeputztes Russisch trotz all seiner Anstrengungen viel zu schwach. Der Beifall nach jedem beendeten Konzept war zögernd und reserviert. Doch soweit das Auge blickte, war kein Polizist zu sehen, zumindest nicht in Uniform.
Auf irgendeine Weise würde er sich Irmas bedienen können, und zwar unabhängig davon, ob sie für das KGB arbeitete oder nicht. Sie hatte sich ja sofort von ihm einladen lassen.
Er überlegte sich dies während der zwei Stunden, die er brauchte, um in der ewigen Schlange zum Leninmausoleum zu kommen.
Es gab eine besondere Schlange für Leute wie ihn, etwa wie vor manchen Diskotheken und Restaurants in Stockholm, in denen Personen, die in der Welt der Popmusik arbeiten, sowie ihre wirklichen oder behaupteten Freunde bevorzugt eingelassen werden. Aus Gründen aber, die er fast als sentimental begriff oder als eine Art Verrat an seiner Jugend, seiner früheren Jugend, wie er sich korrigierte, wollte er Lenin nicht auf diese Weise besuchen. Er wollte in der ewigen Schlange stehen.
Carl befand sich jetzt schon am vorderen Ende der Schlange. Und da lag also Lenin mit geschlossenen Augen in seiner Glasvitrine. Man hatte ihm einen Anzug angezogen, der vielleicht im Kaufhaus PUB in Stockholm gekauft worden war. Minuten später hatte Carl das steinerne Mausoleum wieder verlassen und hatte damit also Lenin hinter sich gebracht wie Millionen von Sowjetbürgern Jahr für Jahr.
Die Hitze schlug ihm entgegen, als hätte ihm jemand mit einer Keule auf den Kopf geschlagen. Das Mausoleum mußte eine Klimaanlage haben. Er beschloß, keinen Spaziergang zu dem Treffpunkt zu machen, sondern die U-Bahn zu nehmen. Er hatte sich von Zeit zu Zeit das Streckennetz vorgenommen und sich sämtliche Schnittpunkte der Kaluschko-Rijskaja-Lime eingeprägt.
Er ging in Gedanken das Streckennetz durch. Jetzt
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