Feind des Feindes
wollte er bei der Oktjabrskaja aussteigen, entweder mit der braunen oder der gelben Schnellbahnlinie. Wenn er die Kirow-Frunse-Linie vom Prospekt Marksa bis zur Kirowskaja nahm und durch die Passage zur Turgenjewskaja ging, um dort in die gelbe Schnellbahnlinie zum Prospekt Mira umzusteigen, würde er von dort mit der braunen Linie in einem Halbkreis zur Oktjabrskaja hinunterfahren können.
Das war eine von vier oder fünf denkbaren Möglichkeiten.
Er ging das Ganze immer wieder durch, während er seine Fünf-Kopeken-Münze in die Sperre steckte, die von Rot auf Weiß umschaltete - mußte es im Sozialismus nicht genau umgekehrt sein? Dann fuhr er mit der Rolltreppe in die Unterwelt. Die Tiefe, in der Moskaus U-Bahn unter der Erde lag, war beträchtlich und wurde überdies geheimgehalten, da das U-Bahnsystem als ein Teil der Verteidigungsanlagen angesehen wurde.
Als er den ersten besten Wagen betreten hatte, entdeckte er, daß über jeder zweiten Tür eine Karte mit dem Streckennetz hing; er brauchte also nicht alles auswendig zu lernen. Ein ungefähres Bild genügte, und er mußte sich nur noch im Umsteigen üben.
Gleichwohl würde er sich auch künftig noch anstrengen müssen, um so zu fahren, daß eventuelle Verfolger ihn nicht aus den Augen verloren. Es kam sehr darauf an, daß sie ihm immer folgen konnten. Bis zu einem ganz bestimmten Augenblick.
Auf den Bahnhöfen steigerte er sein Spaziergängertempo ein wenig, um nicht ständig halb umgerannt zu werden; er tat dies jedoch auch, damit sich sein Verhalten in dem ganz bestimmten Augenblick nicht plötzlich als allzu ungewöhnlich ausnahm.
Wieder kamen ihm die unbehaglichen Assoziationen, daß alle diese Menschen seine Feinde waren oder daß vielmehr er ihr Feind war.
In Wahrheit war er das, womit sie von ihrer Propaganda so oft zwangsgefüttert worden waren, daß sie wohl kaum noch glaubten, daß es so etwas überhaupt gab: den westlichen Spion, der tückische Anschläge auf den Frieden und die Sowjetmacht plant. Doch genau der war er.
Wieder die Hitze, und wieder klebte ihm das Hemd am Rücken. Er hatte weite helle Leinenhosen und ein kurzärmeliges Baumwollhemd angezogen, das ihn vermutlich als Westler klassifizierte, zumindest für den schärfer blickenden Teil der Moskauer Bevölkerung, für die Leute, die sich ohne zu zögern des Englischen oder Deutschen bedienten, wenn sie ihn ansprachen, um Geld zu wechseln. Was er natürlich immer wieder ablehnte. Wie merkwürdig es auch einigen seiner Verfolger und Beobachter erschiene, er würde niemals auch nur das kleinste Vergehen oder die kleinste Gesetzesübertretung begehen. Nicht einmal Trunkenheit am Steuer kam für ihn in Frage. Vor allem deshalb nicht, weil mehrere Angehörige des sowjetischen Nachrichtendienstes gerade wegen Trunkenheit am Steuer aus Stockholm ausgewiesen worden waren. Er würde es auf keinen Fall dazu kommen lassen, daß sie sich auf seine Kosten revanchieren konnten. Von schwarzem Geldwechsel durfte nie die Rede sein, und falls der Geiz die Oberhand zu gewinnen drohte, konnte er seine Ausgaben immer noch als Spesen geltend machen, wenn alles vorbei war. Immerhin wurden schwarz für zehn Dollar achtzig Rubel gezahlt. Und wenn die Behörden nicht mitspielten, spielte es trotzdem keine Rolle, da das teure Leben in Moskau immer noch weit billiger war als sein Leben in Stockholm, wo eine Flasche weißer Burgunder einem ganzen Abend in Moskau entsprach. Mit legal eingewechselten Rubeln.
Sie würde am Bootsverleih im Gorkij-Park warten, aber er war etwas zu früh gekommen. Statt dessen begab er sich zum Puschkin-Kai am unteren Ende des Parks und setzte sich sichtbar in den Schatten einiger Bäume. Immer noch ein sehr leichtes Objekt für die Späher von der gegnerischen Seite. Und daran sollten sie sich gewöhnen.
In erster Linie würde er Irma dazu benutzen, in ihren Bekanntenkreis hineinzukommen, um seinen unpassenden Umgang zu erweitern. Falls möglich, würde er auch versuchen, so etwas wie eine Romanze mit ihr anzufangen. Selbst wenn sie noch nicht für den Gegner arbeitete, bestand die Aussicht, daß man sie bald dazu zwang.
Die Frage war, wie er sich bei den Prostituierten der Hotels verhalten sollte. Vermutlich war Umgang mit Prostituierten kriminell, obwohl es sie offiziell gar nicht gab. Würden die Russen aber nicht einfach nur jubeln, wenn er eine solche Schwäche zeigte, statt eine diplomatische Affäre daraus zu machen?
Wahrscheinlich. Aber wissen kann man es nie, dachte
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