Feinde der Krone
ihre Augen und verschwand wieder. Mit völlig gleichmütiger Stimme sagte sie: »Wer sich nicht um solche Dinge kümmert, um den kümmern sie sich auch nicht.«
»Waren Sie von Miss Lamonts … besonderer Begabung überzeugt?«
Sie zögerte. Er konnte ihrem Gesicht nicht ansehen, was sie dachte. Lag die Loyalität zu ihrer Herrschaft vielleicht im Widerstreit mit ihrer Wahrheitsliebe?
»Was können Sie mir darüber sagen?« Die Frage schien ihm
dringlich. Immerhin hing der Tod dieser Frau mit ihrer Tätigkeit zusammen, auf welche Weise auch immer. Weder ein habgieriger Verwandter hatte sie umgebracht noch ein überraschter Einbrecher. Es handelte sich ganz offenbar um die geplante Tat eines Menschen, der einer übermächtigen Leidenschaft folgte, sei es Wut oder Neid, der den Willen hatte, nicht nur die Frau zu vernichten, sondern auch die Gaben, derer sie sich rühmte.
»Ich … ich weiß es wirklich nicht«, sagte Lena unbeholfen. »Ich bin hier das Hausmädchen. Ich kann Ihnen nur sagen, dass es Leute gab, die wirklich an sie geglaubt haben, und zwar mehr als die, die herkamen. Sie hat mal gesagt, dass sie nirgendwo besser arbeiten könnte als hier. Was sie in anderen Häusern gemacht hat, war wohl mehr eine Art Unterhaltung.«
»Das heißt also, die Menschen, die gestern Abend hier waren, suchten aus irgendeinem wichtigen persönlichen Grund eine tatsächliche Verbindung mit den Toten?«
»Das weiß ich nicht. Aber sie hat gesagt, dass es so war.« Sie wirkte angespannt, saß aufrecht, ohne sich anzulehnen, hielt die Hände auf dem Tisch vor sich verschränkt.
»Haben Sie je an einer solchen Sitzung teilgenommen, Miss Forrest?«
»Nein!« Die Antwort kam sogleich und mit Nachdruck. Ihre innere Erregung war unübersehbar. Dann senkte sie den Blick. Mit leiser Stimme sagte sie: »Die Toten sollen in Frieden ruhen.«
Mit einem Mal sah er, wie ihr Tränen in die Augen traten und über ihre Wangen liefen. Ihr Gesicht blieb reglos. Sie entschuldigte sich nicht, schien in das Bewusstsein ihres Verlusts eingesponnen, als hätte sie Pitts Anwesenheit für eine Weile vergessen. Vermutlich weinte sie nicht um Maude Lamont, die groteske Gestalt, die steif ein Stück weiter im Salon saß, sondern um einen Menschen, der ihrem Herzen nahe stand. Er hätte es am liebsten gesehen, wenn jemand dort gewesen wäre, der ihr Trost zusprach, durch den Kummer hindurch Zugang zu ihr hatte und sie beruhigen konnte.
»Haben Sie Angehörige, Miss Forrest? Jemanden, den wir benachrichtigen könnten?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich hatte nur eine Schwester, Nell, aber die lebt schon lange nicht mehr, Gott sei ihrer Seele gnädig«, sagte sie. Dann holte sie tief Luft, straffte sich und versuchte sich mit großer Mühe zusammenzunehmen. Es gelang ihr. »Bestimmt wollen Sie wissen, wer die Leute waren, die gestern Abend gekommen sind. Ich kann Ihnen das nicht sagen, denn ich weiß es selbst nicht, aber sie hat über alles Mögliche Buch geführt. Das Heft liegt in ihrem Sekretär. Wahrscheinlich ist er abgeschlossen. Sie trägt den Schlüssel dazu an einem Kettchen um den Hals. Falls Sie ihr das nicht abnehmen wollen, könnten Sie das Schloss auch mit einem Messer aufbrechen. Das wäre aber schade, der Sekretär ist wunderschön, mit Einlegearbeiten und dergleichen.«
»Ich hole den Schlüssel.« Er erhob sich. »Ich muss später noch einmal mit Ihnen reden, Miss Forrest, aber jetzt sagen Sie mir bitte erst, wo der Sekretär steht, und machen dann vielleicht eine Tasse Tee, zumindest für sich selbst. Möglicherweise hätten Inspektor Tellman und seine Männer ebenfalls gern eine.«
»Ja, Sir.« Sie zögerte. »Danke.«
»Der Sekretär?«, erinnerte er sie.
»Ach ja. Er steht im kleinen Arbeitszimmer, die zweite Tür links.« Sie wies mit einer Handbewegung in die Richtung.
Er dankte ihr und kehrte dann in den Salon zurück. Der Polizeiarzt war gegangen. Tellman stand an der Terrassentür und sah hinaus, wo sich ein Wachtmeister in dem kleinen Garten hinter dem Haus umsah, in dem man Kamelienbüsche und eine gelbe Hochstammrose in voller Blüte erkennen konnte.
»War die Gartentür von innen verriegelt?«, fragte Pitt.
Tellman nickte. »Und von dieser Terrassentür aus kann man nicht auf die Straße. Es muss jemand gewesen sein, der schon hier drin war«, sagte er ratlos. »Er ist dann wohl durch die Haustür hinausgegangen, die von selbst ins Schloss fällt. Ich habe das Mädchen gefragt. Sie sagt, sie hat keine
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