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Feindesland

Feindesland

Titel: Feindesland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Uschmann
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beauftragen Agent Schuh, für uns weiterzusuchen, und kehren heim, sprachlos und matt.
    Gegen 22 Uhr sitzen wir zusammen in unserer Wohnung, essen Falafel und Fritten aus einer am christlichen Fest geöffneten Bude und starren vor uns hin. Unsere Restaurant-Reservierung haben wir abgesagt. Wir essen, weil wir essen müssen. Unsere Augen brennen, aber schlafen können wir nicht. Jochen und Mario sind da, versuchen uns aufzuheitern, legen Musik auf, schalten »Alarmstufe: Rot 2« im Heiligabendprogramm von RTL ein und scherzen darüber, schieben uns Dominosteine und gefüllte Lebkuchenherzen zwischen die Zähne. Es ist Heiligabend. Es ist nicht Heiligabend. Es kann nicht Heiligabend sein, solange die Suche andauert. Sollte sie so erfolglos bleiben, wie wir es alle befürchten, kann es nie mehr Heiligabend werden.
    Agent Schuh lässt seit Stunden irgendwelche Telefone klingeln. Behauptet er. Vielleicht boxt er auch nur neben seinen Regalen, reißt mit den Füßen Flusenbüschel aus dem Teppich und kassiert Honorar. Dass wir morgen früh in die Heimat zu den Eltern fahren sollen, liegt uns zusätzlich im Magen. Finden wir Yannick nicht, müssen wir ihnen absagen. Wir treiben im luftleeren Raum. Steven Seagal geht in die Werbepause.
    Ich nehme Jochen die Fernbedienung aus der Hand: »Mach den Scheiß weg.«

     
    »Ist ja gut. Was soll ich reinmachen?«
    »Ach, ich weiß es doch auch nicht. Das Spiel, lass es einfach laufen, immer noch besser, als wenn die Hackfresse mir da erklärt, warum ich Allianz-versichert sein muss.«
    Jochen sagt: »Gut«, nimmt die Hülle von Super Monkey Ball m die Hand und öffnet sie.
    »Ist schon in der Konsole«, sage ich.
    Jochen schaltet sie ein.
    Mein Handy brummt, um die Ankunft einer SMS anzuzeigen. Ich sehe nach und lese, was da steht. Mein Herzschlag beschleunigt sich. Meine Atemfrequenz wird kürzer. Es gibt Momente im Leben, in denen man sich verzweifelt gegen die Realität wehrt und dabei so unweigerlich in sie hineinrutscht wie auf einer Bobbahn. Auf dem Display steht: Keine frohen Weihnachten, oder? Jetzt seht ihr, wie das Leben ohne Hauskater ist. Wenn ihr das weiter so haben wollt, bitte. Ansonsten zahlt 5000 Euro bis Neujahr. Klebt einen gelben Zettel an euren Briefkasten, wenn wir uns einig sind. Wir melden uns dann. Ich umklammere das Telefon, als dürfe ich es nicht verlieren und als wolle ich es zugleich erwürgen. Woher sie meine Nummer haben, frage ich mich gar nicht erst. Mir wird übel. Ich bin kurz davor, mich zu übergeben.
    Hartmut nimmt das Handy, wird aschfahl im Gesicht und reicht es an die Frauen weiter. Caterina schluchzt. Susanne wird ganz still, geht in die Küche und schlägt dann unvermittelt auf einen Schrank ein. Sie wirft den Wasserkocher auf den Boden. Hartmut geht zu ihr, umarmt sie von hinten, hält sie fest. Jochen und Mario lesen die SMS und verlieren ihre Haltung, hocken auf der Couch wie tote Puppen.
    »Krieg«, sage ich, unfähig, vom Boden aufzustehen. »Krieg. Russland muss brennen. Schluss mit dieser zaghaften Scheiße von der langsamen Veränderung zum Besseren. Wie lange wollen wir noch warten? Wir gehen kaputt an unserer reinen Toleranz. Krieg ...«
    Caterina hockt sich vor mich, nimmt meinen Kopf und sieht mir in die Augen: »Hey, Schluss mit dem Quatsch! Was machen wir jetzt?«
    Ich spüre ihre Hände auf meinen Wangen. Lasse zu, dass sie mich beruhigen. Dass sie den Hass aus mir raussaugen und Platz für praktische Gedanken machen.
    »Wir zahlen«, sage ich. »Wir zahlen, lassen uns Yannick zurückgeben, und dann verschwinden wir aus diesem Haus, so schnell es geht.«
    Hartmut steht in der Küchentür, hinter ihm macht Susanne Wasser heiß in dem Gerät, das sie eben fast zertrümmert hat. Ich erwarte, dass er protestiert, doch er sagt nur: »Gut, wir zahlen. Aber womit? Unser letztes Geld haben wir dieser Tage in die Wachtürme auf dem Firmengelände investiert. Um uns zu schützen!« Er lacht schief.
    »Wir pumpen unsere Eltern an«, sage ich. »Wir fahren morgen in die Heimat. Wir spielen Weihnachten. Der Sohn und die schwangere Schwiegertochter. Gute Freunde. Braten. Kekse. Alles gut. Wir pumpen unsere Eltern an, ohne ihnen die Wahrheit zu sagen. Anpumpen, zurückkehren, zahlen, Ruhe haben.«
    »Ruhe«, sagt Hartmut, und zum ersten Mal seit ich ihn kenne, sagt er es so, als wolle er es wirklich, als könne er nicht mehr, als wäre sein ganzes Leben bislang der Krieg gewesen, aus dem man heimkehrt und dann vier Jahre lang im Bett

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