Feist Raymond - Die Erben von Midkemia 4
bewegte sich langsam, aber gezielt durch eine
dunkler werdende Straße, und die Jungen folgten ihm in
einer Reihe. Da fast alle anderen in der Stadt sich entlang
des großen kaiserlichen Boulevards drängten, war diese
breite Straße an der Ostseite des Palastes beinahe verlassen. Das massive Palastgebäude verwandelte die spätnachmittägliche Straße in eine dunkle Schlucht, als die
Sonne im Westen hinter den Horizont sank. Dieser Bereich wurde überwiegend von Wagen und Karren benutzt, mit denen Waren zum Palast gebracht wurden, und
auf der anderen Straßenseite befanden sich vier oder fünf
Stockwerke hohe Gebäude mit winzigen Wohnungen.
Die einzigen Anzeichen menschlicher Aktivität gab es an
den verschlossenen Toren, die den Weg zu den unteren
Ebenen des Palasts versperrten und von Angehörigen der
Hausgarde bewacht wurden.
Die vier hielten sich dicht an den Häusern an der gegenüberliegenden Wand und bewegten sich schnell genug, um nicht entdeckt zu werden, aber auch langsam
genug, um keinen Verdacht zu erregen. An jedem Tor
warfen die Gardisten Caleb und den Jungen kurze Blicke
zu, aber ansonsten ignorierte man sie. Solange sie nicht
versuchen würden, in den Palast einzudringen, würde
man sie nicht behelligen.
Sie kamen zu einem Bereich mit verlassen wirkenden
Häusern, alle sehr gepflegt, aber auch klein und eng beieinander stehend. Caleb flüsterte: »Hier wohnen Diener,
die nicht innerhalb des Palastes leben. Die Häuser sollten
leer sein, denn heute Abend sind alle Diener im Palast
beschäftigt.« Er sah sich um, und eine plötzliche Bewegung an einem Fenster erregte seine Aufmerksamkeit,
aber als er genauer hinschaute, war nichts mehr zu erkennen. Er drückte sich wieder gegen die Wand und hob
die Hand, damit die anderen schwiegen.
Caleb wusste, dass in früheren Zeiten nach Sonnenuntergang nur die vom Wahren Blut im Palast sein durften
–die einzige Ausnahme bildeten Adlige aus anderen
Ländern, die in einem besonderen Flügel untergebracht
waren. Man hatte diese Regeln weniger rigoros befolgt,
seit Diigai den Thron bestiegen hatte, und einige sehr
wichtige Ämter wurden nun von Angehörigen anderer
Stämme ausgeübt, die ebenfalls im Palast wohnten.
Caleb seufzte. »Ich habe ein ungutes Gefühl.«
»Was?«, fragte Tad.
»Wer von euch kann sich am besten anschleichen?«,
fragte er.
»Zane«, sagte Tad.
»Tad«, sagte Zane im selben Augenblick.
»Ich«, verkündete Jommy erheblich überzeugender.
Die beiden anderen Jungen sahen ihn an, und Jommy
fügte hinzu: »Wer von euch hat die letzten Jahre auf der
Straße gelebt?«
Caleb lächelte. Die Straße zog sich so weit das Auge
reichte weiter nach Norden, aber sie wurde von einer
Straße, die von Osten kam, gekreuzt. Gegenüber dieser
Kreuzung befand sich ein weiteres großes Tor.
»Kannst du dort hinüberschleichen, nahe zum Tor, und
einen Blick darauf werfen, ohne dass man dich bemerkt?«
Jommy sah sich um. Leise sagte er: »Es sollte nicht so
schwierig sein. Aber vor wem muss ich mich verstecken?
Ich kann niemanden sehen.«
»Oben, das zweite Fenster. Jemand beobachtet die
Straße.«
Jommy schaute nach oben und wartete. Einen Augenblick später sagte er leise: »Ich sehe ihn.«
»Glaubst du, man hat uns entdeckt?«, fragte Zane.
»Wenn das der Fall wäre, wäre jemand schon heruntergekommen«, antwortete Caleb. »Wer immer da oben
ist, behält das Tor dort im Auge und nicht die Straße hier
unten.« Dann wandte er sich an Jommy. »Also musst du
dich anschleichen und herausfinden, was er beobachtet.«
Jommy sah sich um, dann sagte er: »Also gut. Ich bin
gleich wieder da.« Er hielt sich dicht an der Wand, bis er
die Ecke erreichte, wo er aus ihrem Blickfeld verschwand.
Lange Minuten vergingen, dann war der Junge plötzlich wieder da. »Nach allem, was ich gesehen habe«, flüsterte er, »befindet sich hinter dem Tor eine Art Aufmarschplatz – ich weiß nicht, ich war nicht oft in diesem
Teil der Stadt. Wenn es keiner ist, dann sammeln sich
dort wahrscheinlich die Wagen, die Lieferungen in den
Palast bringen oder so. Jedenfalls ist das Tor geschlossen,
und es gibt zwei Wachen.«
»Warum bewachen sie dieses Tor?«, fragte Caleb leise.
»Das weiß ich nicht, aber mir ist etwas aufgefallen.«
»Was?«, fragte Caleb.
»Die anderen Tore, an denen wir vorbeigekommen
sind, hatten auch alle Wachen.«
»Ja«, sagte Caleb. »Und?«
»All diese Wachen standen hinter dem Tor. Diese beiden Kerle standen draußen.«
»Das
Weitere Kostenlose Bücher