Feist Raymond E. - Krondor Saga 01
Navons Klinge
über seinen Rücken hinwegstrich – dabei wurde
seine Tunika von der Schulter an bis zur Mitte des
Rückens aufgerissen. Mit einer abrupten Drehung
des Handgelenks brachte James die Schwertspitze
wieder nach oben, und Navon lief direkt hinein.
Der Anführer der Nachtgreifer stand einen Augenblick wie erstarrt da. »Ich habe die Fechtkunst
bei Prinz Arutha gelernt«, sagte James.
Der Junker zog sein Schwert zurück, und Navon
sank auf die Knie. Er warf James noch einen kurzen, fragenden Blick zu, dann wich jegliches Leben
aus ihm, und er fiel vornüber zu Boden.
James kniete sich hin, um ihn zu untersuchen.
»Er ist tot«, erklärte der Junker.
Ugyne stand hinter der Theke neben Peter dem
Grauen. »Was hat das alles zu bedeuten?«, schrie
sie mit schriller Stimme.
James stand auf. »Wir werden Euch alles erklären, aber zunächst einmal muss Owyn Euren Vater
holen. Da ist immer noch ein Rätsel, das gelöst
werden muss.«
Owyn lief schon zur Tür, da rief James ihm hinterher: »Und denk an …«
Als Owyn die Tür öffnete, versetzte Gorath ihm
einen so kräftigen Hieb ins Gesicht, dass er wieder zurück in den Raum geschleudert wurde. »…
Gorath!«, beendete James den Satz. Er erhob sich
und ging hinüber zu Owyn, der bewusstlos dalag.
Kopfschüttelnd wandte sich James an Ugyne.
»Könntet Ihr dann bitte Euren Vater holen?«
Das Mädchen lief davon, um James’ Bitte nachzukommen, und Peter der Graue trat zu James.
»Ich bitte vielmals um Vergebung, Herr, aber …
nun, ich weiß nicht, wie ich es anders sagen soll:
Ich muss Euch wirklich bitten zu gehen.«
James blickte den schüchternen Schenkenwirt
an und lachte. »Ich verstehe.«
Sie waren gerade dabei, die Leiche dessen wegzuräumen, der sich Navon genannt hatte, als Baron
Corvallis eintraf. Er war leichenblass. »Baron, wir
haben ein Rätsel zu lösen«, sagte James.
»Was hat das alles zu bedeuten?«, fragte der Baron.
»Vater, er hat Navon mit ›Neville‹ angesprochen«, erklärte Ugyne.
Das letzte bisschen Farbe schien aus den Wangen
des Barons zu weichen. Er sah aus, als würde er jeden Augenblick ohnmächtig werden. »Neville?«
James bedeutete dem Baron, sich zu setzen. »Es
sind Morde geschehen, aber nicht erst kürzlich,
sondern schon vor langer Zeit. Erzählt mir von du
Sandau und dem Weinkeller.«
Der Baron verbarg das Gesicht in den Händen
und beugte sich vor, und einen Augenblick lang
glaubte James, dass er weinen würde. Als er die
Hände schließlich wieder wegnahm, stand jedoch
nichts als Erleichterung in seinem Blick. »Er war
dein Bruder, Ugyne. Deshalb war ich so dagegen,
dass du dich mit ihm treffen wolltest. Er hat dir nur
deshalb den Hof gemacht, um mich zu ärgern.«
»Ich verstehe nicht ganz«, sagte das Mädchen.
»Neville war Euer Bruder«, erklärte James. Er
sah den Baron an. »Aber er war nicht der Sohn
Eures Vaters.«
Das Gesicht des Barons lief rot an, doch er nickte nur stumm, als wäre er unfähig, auch nur ein
einziges Wort hervorzubringen.
James wandte sich an das Mädchen. »Ich habe
mich ein bisschen umgehört. Es gibt immer Leute,
die bereit sind, Klatsch zu verbreiten. Es scheint,
als wäre Sandau, der Mann, den Euer Vater vor
vielen Jahren angeheuert hat, nicht nur Steinmetz
gewesen, sondern auch Bildhauer. Und er hatte
den Ruf, auf Frauen zu wirken. Wenn es stimmt,
was eine alte Frau mir erzählt hat, war er ein großer, gut aussehender Mann von leidenschaftlichem
Wesen – der Typ Mann, den viele Frauen bewundern.«
Der Baron wurde noch röter.
»Meine Mutter ist untreu gewesen?«, fragte Ugyne.
»So etwas soll vorkommen«, sagte James.
Sie warf ihrem Vater einen Blick zu, als wäre er
ein Fremder. »Du hast Sandau umgebracht?«
»Ich habe einen Unfall arrangiert«, gestand er
mit schwacher Stimme. »Ich habe nicht gewusst,
dass die Sache so außer Kontrolle geraten würde.
Bei dem Einsturz ist ein halbes Dutzend Männer
ums Leben gekommen; und wie ich geglaubt habe,
auch Neville.« Der Baron sah jetzt aus, als würde
er wütend werden. »Ich habe doch nicht gewusst,
dass der Junge auch dort unten sein würde!« Er
schlug mit der Faust auf den Tisch. »Ich habe immer versucht, ihn gerecht zu behandeln.« Er blickte
Ugyne an. »Ich habe nie mit deiner Mutter darüber
geredet, was zwischen ihr und Sandau vorgefallen
ist. Ich habe versucht, den Jungen so aufzuziehen,
als wäre er mein eigener Sohn.«
Sie erhob sich. »Ich kenne dich nicht«, sagte
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