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Feldpostnummer unbekannt

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Titel: Feldpostnummer unbekannt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Will Berthold
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Stalingrads, und ihre Opfer wurden vom Rollfeld getragen. Unter ihnen war Hanselmann, von der Luftschraube so verstümmelt, daß von seinem Gesicht nichts mehr zu erkennen war. Achim zwang sich trotzdem, ihn anzusehen, und für ihn wurde in dieser Minute nicht ein toter Landser weggetragen, sondern auch ein Symbol beiseite geschafft: Der Glaube an den sturen Gleichmut der Zuversicht, daß es immer noch ein Loch gab, durch das man schlüpfen konnte. Der Bulle hatte immer gewußt, was zu tun und wo etwas zu holen war: ein Meister im Organisieren, von barbarischer Vitalität, die die anderen stets mitriß – und jetzt war er nicht mehr ein häufig gehasstes und heimlich bewundertes Vorbild, sondern ein ganz gewöhnlicher Landser, wie sie zu Tausenden auf diesem Kriegsschauplatz herumlagen.
    Das war für Achim der letzte Anstoß. Auf einmal fielen die Scheuklappen der Zeit von ihm, und er wollte nichts mehr hören, wollte denken. Bei 28 Grad unter Null, während des Verhungerns auf Raten, inmitten eines Rudels stinkender, zerlumpter, gieriger Wölfe, erfuhr der frühere Pimpf am eigenen Leib, wie sehr ihn die Zeit und das System mißbraucht hatten, und da er noch so jung war, daß er an etwas glauben mußte, setzte er den Hass gegen die Führer, deren Befehle er noch gestern blindlings befolgt hatte.
    Der Hass, die typische Empfindung eines Konvertiten, potenzierte seine Kraft, und auf einmal fiel der rote Schleier, durch den er seit Tagen gesehen hatte, und er verfügte über eine bescheidene Waffe gegen Hunger und Frost, und er hatte deshalb eine Chance, das Inferno zu durchstehen, denn lange konnte es ohnedies nicht mehr dauern.
    Pitomnik, der letzte E-Hafen, war im Eimer. Die HKL lief im Zickzack quer durch die Stadt Stalingrad, und keiner wußte mehr, wo Freund oder Feind stand. Es gab nur noch Inseln des Widerstandes, verzweifelte Nester in der Nähe der Zone, in der die Verpflegung abgeworfen wurde, an der Stelle, die so pietätvoll wie zynisch ›Platz der Gefallenen‹ hieß.
    Er war jetzt abgeschirmt gegen die Lebenden. Die Zugänge zu diesem Platz wurden durch Barrikaden und Sandsäcke gesperrt, Balkongitter, Laternenpfähle, ausgebrannte Panzer, Eisenschienen und Stacheldraht sollten ihn gegen den Hunger isolieren. Als einzige Waffengattung, die noch intakt war, erwies sich die Feldgendarmerie, die Tag und Nacht diese letzte Position bewachte und gelegentlich die Keller durchkämmte und Sterbende, Hungernde und Verwundete hinaustrieb in die Schlacht, und häufig genug mit den Stiefelspitzen noch einem Toten einheizen wollte.
    Und so ging es weiter über Leichen, Ratten und Seuchen hinweg. Längst war die letzte Patrone verfeuert und General Paulus zum Feldmarschall ernannt. Längst hielten auch die für dieses Fiasko Verantwortlichen großartige Gedenkfeiern im gesamten Reichsgebiet und begründeten die Proklamation des ›Totalen Krieges‹ mit dem Massensterben in Stalingrad. Und der Widerstand ging weiter. Vielleicht nur, weil der Verteidiger Paulus zu feige war, sich zu ergeben, und erst dann ein Saulus wurde, als ihm die Sowjets zusicherten, daß er nicht mit den Resten der Hungerarmee zu marschieren brauchte, sondern sie in einer geschlossenen Limousine überholen durfte.
    Achim war am ›Platz der Gefallenen‹ mit anderen Versprengten eingeschlossen und einer neuen Kampfgruppe zugeteilt. Er gehörte zu den wenigen, die sozusagen lebend ihre eigene Beerdigung überstanden: In dem Keller, den er hielt, stand ein Funkgerät, und er und seine Kameraden hörten einen markigen Nachruf über ›die Tapfersten des deutschen Volkes, die Stalingrad bis zum letzten Mann und bis zum letzten Schuß gehalten hatten und dann im Nahkampf gefallen waren‹.
    Achim Kleebach lachte laut, hysterisch, brüllte, bis ihm die Tränen über das ausgemergelte Gesicht liefen und sofort zu Eistropfen gerannen. Und die anderen nickten, und soweit sie sich noch gegen den schleichenden Tod zur Wehr setzten, stellten sie fest, daß sie sich selbst überlebt hatten, und kamen sich vor wie Scheintote, die bei vollem Bewußtsein regungslos im Sarg liegend, sich das Gerede der Trauergäste anhören müssen.
    »Was mich betrifft«, sagte Achim, überzeugt, fast drohend, »so ist für mich hier Feierabend. Aus. Schluß.«
    Zwei, drei starrten ihn an. Die anderen waren zu müde dazu.
    »Was willst du?« fragte der Unteroffizier.
    »Abhauen.«
    »Wohin?«
    »Zu den Iwans.«
    »Die legen dich bloß um.«
    »Dann geht's wenigstens

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