Felicity Gallant und Das Auge des Sturms (German Edition)
durch die Tür und die Treppe hinauf ins zweite Stockwerk. Sie betrat Felicitys Zimmer, ging auch dort zum Fenster und zog den Vorhang beiseite. Mit einem Taschentuch wischte sie den Fleck weg, den Felicitys Nasenspitze auf der Scheibe hinterlassen hatte. »Dieses Zimmer gefällt mir sehr viel besser«, sagte sie.
Felicity erstarrte. Sollte das heißen, dass diese Frau ihr Zimmer für sich haben wollte?
»Wenn man am Ende eines langen Lebens angekommen ist«, fuhr die Großmutter fort, »sind es die einfachen Dinge, die einen glücklich machen. Eine schöne Aussicht, ein bisschen Platz für die paar Besitztümer, die man angesammelt hat –«
Felicity hielt es nicht mehr aus. »Aber das ist mein Zimmer«, sagte sie ängstlich.
Die alte Dame schien das überhaupt nicht zu interessieren. »Ein Mädchen, das gerade erst ins Leben hinaustritt, braucht das nicht. Was für wirklich wichtige Sachen kann ein so junger Mensch schon haben?«
Felicity war außer sich vor Empörung. »Ich habe meine Bücher –«, begann sie.
»Bücher?« Die Großmutter blickte auf all den Lesestoff, der die Winkel und Nischen des Raums füllte. Und plötzlich spürte Felicity eine knochige, kalte Hand an ihrem Kinn. Ein heftiger Wind rüttelte an dem alten Schiebefenster und ein eisiger Luftzug wehte durchs Zimmer. Felicity bekam eine Gänsehaut.
»Felicity« – das Gesicht der Großmutter drückte mitfühlende Besorgnis aus –, »du musst achtgeben, dass du deinen Kopf nicht vollstopfst mit zu viel …« Sie stockte, als suchte sie nach dem passenden Ausdruck. »Mit zu viel Wissen .« Sie spuckte das Wort wie etwas Widerliches aus.
»Im Übrigen«, setzte sie hinzu, »wirken Mädchen, die sich die ganze Zeit hinter Büchern verschanzen, nicht besonders attraktiv. Wie willst du denn so einen Verehrer gewinnen?« Sie legte den Kopf etwas schief und lächelte Poppy kokett zu, die mit einem melodischen Kichern reagierte.
Felicity umfasste die Holzkugel in ihrer Tasche. Sie war plötzlich nicht mehr verängstigt oder verletzt, sie fühlte nichts als Zorn. »Verehrer, die dumme Mädchen wollen, können mir gestohlen bleiben«, murmelte sie trotzig, als sie das Zimmer verließen, das nun nicht mehr ihres war.
»Ich hoffe, dass du deine Kinder nicht dazu erzogen hast, Respektspersonen freche Antworten zu geben«, hörte sie die Großmutter sagen. Und dann sah sie, wie die alte Dame einen giftigen Blick über die Schulter in ihre Richtung warf.
Plötzlich spürte Felicity wieder Angst in sich aufsteigen.
Im Wohnzimmer spielte Poppy auf dem Klavier ein kurzes Musikstückchen aus ihrem Übungsheft für Anfänger. Ihre schönen langen Haare fielen glatt auf das hübsche Kleid, das ihr, schlank und zierlich, wie sie war, so gut stand.
»Entzückend«, rief die Großmutter und klatschte Beifall. Besser gesagt: Ihre Hände machten Klatschbewegungen, aber es entstand kein Geräusch dabei. »Du bist so ein bezauberndes kleines Mädchen, Poppy.« Dabei warf sie einen tadelnden Blick auf Felicity, den nur diese bemerkte.
»O ja, sie macht sich recht gut«, sagte die Mutter geschmeichelt, während Poppy sie mit sich fortzog, um ein anderes Notenheft zu holen.
Felicity starrte fassungslos vor sich hin. Wieso bemerkte außer ihr niemand, wie gemein die Großmutter sein konnte? Es kam Felicity vor, als wäre diese schreckliche alte Dame in ihr Haus eingefallen und hätte mit einem bösen Zauber die ganze Familie in ihren Bann geschlagen, nur sie selber nicht.
»Ich verstehe gar nicht, warum du so widerspenstig bist, Felicity«, sagte die Mutter, als sie ihr half, ihr neues Bett zu beziehen. Sie ging um das Bett herum und kniete sich vor Felicity hin, um ihr Nachthemd schön glatt zu zupfen. »Also wirklich, ich wünschte, du würdest mehr Wert auf ein adrettes Äußeres legen. So wie du deine Kleider trägst, wirken auch die schönsten Sachen wie ein Kartoffelsack mit einem Strick um die Mitte. Du musst Großmutter ein bisschen entgegenkommen, sie ist schließlich unser Gast.«
»Findest du es nicht merkwürdig«, fragte Felicity, »dass Papa nicht erzählt hat, dass sie zu Besuch kommt? Und jetzt ist er nicht mal da …«
Mrs Gallant unterdrückte ihren Ärger darüber, dass ihr Ehemann so vergesslich war und sie alleine mit dieser Situation zurechtkommen musste. »Es ist schon ein wenig ungewöhnlich«, gab sie zu, »aber sie ist die Frau von Papas Vater, und es ist unsere Pflicht, sie freundlich aufzunehmen.«
»Ich finde es sonderbar,
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