Felicity Gallant und Das Auge des Sturms (German Edition)
ein Übriges und wich etwas vom normalen Kurs ab, sodass man näher an der Sturmwolke vorbeikam. Es war wirklich ein wunderschönes Schiff.
»Der Hauptmast ist über hundert Meter hoch und das Tauwerk ist insgesamt vierzig Kilometer lang«, plärrte der Dicke, der immer mehr in Fahrt kam. »Die Besatzung umfasst mehr als vierzig Mann. Die Sturmwolke verfügt über einhundertundsechzig Geschütze, die heutzutage natürlich nur noch Dekoration sind und insgesamt mehr als zwölf Tonnen wiegen. Sie schafft die erstaunliche Höchstgeschwindigkeit von zwanzig Knoten. Beachten Sie die prächtig gearbeitete Hecklaterne. Zu den besonders interessanten Details zählt auch die Schiffsglocke, die aus der Werkstatt der berühmten Glockengießerin Maria Pianissimo in Padua stammt.«
Felicity blickte hinauf zu den Kanonenrohren und stellte sich vor, wie es wohl wäre, auf der Suche nach Abenteuern über die Meere zu segeln.
»Sie hat sieben Anker und kann Proviant für sechs Monate bunkern«, leierte die Stimme im Hintergrund.
»… das Kompasshäuschen … Ledereimer mit Wasser oder Sand für den Fall, dass Feuer an Bord ausbricht … Oberlichter der Offiziersmesse …«
Felicity befand sich in ihrer Fantasie mittlerweile auf der anderen Seite der Weltkugel.
»Meine Damen und Herren«, posaunte der mit der gelben Hose, »versäumen Sie nicht, die berühmte Galionsfigur der stolzen Sturmwolke zu bewundern.«
»Die Sturmwolke kommt«, flüsterte Felicity in Gedanken an ihre merkwürdige Begegnung mit Abednego. Sie zerbrach sich den Kopf, warum er ihr das rote Buch gegeben hatte. Großmutter auf der Bank gegenüber hob den Kopf, ihre kalten blauen Augen starrten Felicity an. Angst durchzuckte das Mädchen. Sie wandte den Blick ab.
Sie fuhren direkt vor dem Bug der Sturmwolke vorbei. Die Galionsfigur, eine wilde Windsbraut mit langen schwarzen Haaren, sah hinaus aufs offene Meer. Sie wirkte umso unheimlicher, weil sie nur ein Auge hatte: Dort, wo das andere hingehörte, klaffte eine leere Augenhöhle.
»Das rechte Auge fehlt schon lange Zeit«, erklärte der Dicke. »Angeblich hat ein betrunkener Matrose sich einmal einen Spaß erlaubt und es stibitzt. Der Kapitän soll es ihm wieder abgenommen und behalten haben.«
Ein Matrose mit wettergegerbtem Gesicht lehnte an der Reling und sah hinunter auf das Fährboot. Er trug ein blendend weißes Hemd, eine smaragdgrüne Weste und ein rotes Halstuch. An seinen Ohrläppchen blitzten goldene Ringe. Er zwinkerte Felicity zu und lachte, als sie errötete und wegschaute.
Sechstes Kapitel
F
elicity und Poppy gingen hinter ihrer Mutter und der Großmutter durch die Hauptstraße von Niton, die von lauter Häusern mit Sprossenfenstern gesäumt war. Mehrere Stunden waren vergangen und Mrs Gallant hatte ihre Einkaufsliste abgearbeitet. Felicity war versorgt mit weißen Baumwollwesten, strapazierfähigen Röcken und praktischen Pullovern. Poppy schaukelte schwungvoll eine Tasche, in der sich ein hübsches Jäckchen befand, das es nicht in Felicitys Größe gegeben hatte.
»Wir haben gerade noch Zeit, Tee zu trinken, bevor unser Schiff abfährt«, sagte die Mutter, froh, dass alles besorgt war. Sie hatte vergessen gehabt, wie anstrengend so eine Schwangerschaft war.
»Eine gute Idee.« Die Großmutter tätschelte die Hand ihrer Schwiegertochter. »Es wird Zeit, dass du dich ein bisschen ausruhen kannst.«
Die Mutter lächelte höflich und nahm die schweren Taschen, die sie trug, in die andere Hand.
Felicity warf ihr einen ängstlichen Blick zu. »Wollten wir nicht noch nach Sachen schauen, die ich zum Segeln brauche?«, fragte sie zögernd. Ihre Mutter sah sie verständnislos an.
»Zum Segeln ?« Die Großmutter lachte höhnisch. » Du willst segeln?«
»Für die Wettfahrt morgen. Mit der Schulmannschaft«, sagte Felicity. »Wir haben doch darüber gesprochen.«
»Ach so, natürlich.« Jetzt fiel es Mrs Gallant wieder ein. Sie setzte die Einkäufe ab. »Na ja, lass uns mal überlegen, was du brauchst.« Sie zählte die nötigen Sachen der Reihe nach an den Fingern ab. »Eine Baumwollhose – davon hast du jede Menge; eine Bluse mit Weste – hast du auch; eine wasserfeste Jacke – ich leihe dir einen alten Regenmantel von mir; Socken sind genügend da. Na also, wir haben doch alles.«
Felicity schwieg. Sie hatte nicht erwartet, dass sie eine komplette neue Ausstattung bekommen würde, aber der Mischmasch von Sachen, in die ihre Mutter sie stecken wollte, würde den Spott
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