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Felicity Gallant und das steinerne Herz (German Edition)

Felicity Gallant und das steinerne Herz (German Edition)

Titel: Felicity Gallant und das steinerne Herz (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melanie Welsh
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kannte. Tücke und Hinterlist lagen in seinen Augen.
    »Was?«, fragte Henry schroff.
    »Gehen Sie weg von dem Loch«, sagte Jeb, »bevor Ihnen was passiert.«
    Povl Usage verzog das Gesicht. Wie ein Springteufelchen schoss er plötzlich hoch, rannte zur Kante der Klippe und verschwand aus dem Sichtfeld. Martha schrie entsetzt auf. Alle rannten zum Rand der Klippe, überzeugt, den zerschmetterten Leichnam des Lehrers in der Tiefe liegen zu sehen. Aber er war an einer Stelle hinuntergesprungen, wo die Felsen nicht senkrecht abfielen, sondern stufenartige Absätze bildeten, die mit Gras bewachsen waren. Offenbar war er unverletzt: Die Kinder sahen ihn hinabrutschen und -krabbeln. Dabei stieß er heulende Laute aus wie ein sonderbares wildes Tier.
    »Ich bin der treue Diener der Erdhexe«, schrie er. »Sie braucht Kraft, um wieder ganz zu werden, und ich werde sie ihr verschaffen.«
    Die Kinder starrten hinab zu ihm.
    »Ein Diener der Erdhexe«, flüsterte Felicity.
    »Wir müssen ihn aufhalten«, sagte Martha.
    Henry musste daran denken, was sein Vater gesagt hatte: Magie ist was für Gierige, Faulenzer und Trottel. Er raufte sich die Haare. »Es ist zum Heulen.« Er stieg über die Kante.
    Felicity folgte ihm ohne Zögern. Die Grasbüschel waren hier spärlicher, an manchen Stellen konnte sie sich nur an die nackte Erde krallen.
    Jeb sah zum Himmel hinauf. »Bleib du hier«, sagte er zu Martha und machte sich an den Abstieg.
    Aber Martha schüttelte den Kopf. »Ich komme mit.«
    Etwas weiter unten kletterte Felicity. Ihr Herz klopfte ängstlich, der kalte Wind pfiff durch ihren Mantel, ihre Hände waren fast gefühllos. Es war der helle Wahnsinn. Sie bemühte sich krampfhaft, alle Gedanken auszuschalten, sich nur auf das nächste Grasbüschel, an dem sie sich festhalten konnte, zu konzentrieren, auf das Fleckchen Fels, auf das sie treten konnte. Sie durfte nicht hinunterschauen in den Abgrund.
    »Nicht auf dem Hintern rutschen!«, schrie Henry Martha zu. »Wenn du mal in Fahrt bist, kannst du nicht mehr bremsen.«
    Povl Usage war jetzt unten am Strand angekommen. Er schwenkte triumphierend die Arme. »Die Hüterin der Winde ist fort, jetzt kann meine geliebte Herrin wieder ganz werden.« Er verschwand im Eingang der Höhle unter dem Wunschbrunnen.
    Felicity starrte ihm nach. Sie waren jetzt schon ziemlich weit unten.
    »Was machen wir jetzt?«, fragte Henry.
    »Die
Herrin
hat dafür gesorgt, dass die Erdhexe zerstreut blieb. Das hat Povl Usage gerade gesagt. Natürlich, so ist es: Die Hüterin der Winde hat den zu Sand zerfallenen Körper ihrer Schwester ständig um die ganze Welt gejagt.«
    »Aber jetzt kann die Erdhexe sich wieder zusammensetzen.« Henry fluchte leise.
    »Ja, er hat gesagt: Sie braucht Kraft, um wieder
ganz
zu werden.«
    Henry krabbelte das letzte Stück auf allen vieren über Geröll und Fels, dann streckte er Felicity die Hand hin und half ihr hinunter.
    Povl kam aus der Höhle. »Ich habe es getan«, sagte er befriedigt. »Ihr kommt zu spät.«
    Felicity starrte ihn entsetzt an. »Sie will alle guten Geschichten ausradieren, und Sie helfen ihr dabei?«, schrie sie. »Kapieren Sie nicht, was passieren wird?«
    »Das kann nicht schlimmer sein als das, was ihr angetan wurde: Man hat ihr das Herz gebrochen und sie zerstückelt. Aber wenn sie wieder ganz ist, wird sie die Herrscherin sein.« Er wandte sich ab.
    Felicity packte ihn am Ärmel. Er drehte sich wieder um und rückte ihr ganz nahe auf den Leib, so dicht, dass sie seinen Atem im Gesicht spürte. Mit einem lehmverschmierten Finger hob er das kleine Holzboot an dem Kettchen hoch. Einen Moment lang war ihr, als müsste sie ersticken, so stark war der Geruch nach modriger Erde, der ihr entgegenschlug.
    »Für dich hab ich mir eine besondere Folter ausgedacht«, flüsterte er.
    Felicity ließ seinen Ärmel los. Der Lehrer schnitt eine höhnische Grimasse, dann rannte er mit unglaublicher Geschwindigkeit davon. Felicity wollte hinterher, aber Henry hielt sie auf.
    »Der Mann ist gefährlich«, sagte Jeb.
    »Ja, eben!« Felicity schüttelte Henrys Hand ab. »So einen Kerl kann man doch nicht frei rumlaufen lassen!«
    »Denkst du, wir können ihn uns schnappen und irgendwo gefangen halten? Wie stellst du dir das vor?«, fragte Henry.
    Felicity sah ein, dass er recht hatte. Sie atmete tief durch.
    »Wir müssen in Ruhe überlegen, was wir jetzt tun«, sagte Henry. Er sah niedergeschlagen aus. »Am besten gehen wir in die Bibliothek.«



Zwölftes

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