Felix Castor: Ein Höllenhund kommt selten allein (German Edition)
da sein Hals mit zwei spitzen Gegenständen von beiden Seiten durchstochen worden war. Von ihren Stricknadeln tropfte halb geronnenes Blut auf die Babyschuhe, die sie für ihre elf Monate alte Nichte, Samantha, strickte, aber sie hatte es anscheinend gar nicht bemerkt.
Es gab noch mehr Fälle. Zwei Dutzend mindestens. Nach einer Weile warf ich nur noch einen kurzen Blick darauf, achtete nur auf den Ort und das Datum und ersparte mir die hässlichen, herzzerreißenden Details, die in der Rubrik
Tathergang
geschildert wurden.
Der Kellner kam mit unseren Getränken. Mir schüttete er beinahe den Bourbon in den Schoß, weil er mit seinen Augen ein Problem hatte, die immer wieder Juliets Gesicht und Figur fixierten, sobald seine Konzentration für ein oder zwei Sekunden nachließ. Wir bestellten unser Essen, wobei wir auf das Prinzip Hoffnung setzten, denn der Junge schrieb sich nichts auf, und nichts würde in seinem Kopf haften bleiben außer der Wölbung von Juliets Brust, die teilweise durch den ausgefransten Riss in ihrer Bluse hervorlugte.
Er schleppte sich mühsam davon, und ich sah sie kopfschüttelnd an. »Kannst du ihn nicht vom Haken lassen?«, fragte ich.
Sie runzelte ein wenig pikiert die Stirn. »Er ist achtzehn«, sagte sie. »Ich tue gar nichts – das ist alles völlig natürlich.«
»Oh. Na schön, kannst du dann vielleicht mal den Rückwärtsgang einlegen? Ihm eine psychische kalte Dusche verpassen? Das würde zumindest den Service um einiges verbessern.«
»In den Rückwärtsgang gehen.« Juliets Stimme troff vor Hohn. »Du meinst, Begierde zu unterdrücken anstatt sie zu wecken?«
»Genau das meine ich.«
»Das überlasse ich lieber dir.«
»Oh.« Ich formte mit der rechten Hand eine Pistole und schoss mir ins Herz. Die brutale Direktheit, die leicht mit Sadismus verwechselt wird, war unter anderem das, was ich bei Juliet am meisten liebte. Sie war ein gutes Korrektiv für meine eigene natürliche Gefühlsduselei und Vertrauensseligkeit.
Ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder den Polizeiberichten zu und ging sie ein wenig aufmerksamer durch.
»Okay«, sagte ich. »Ich verstehe. Alle sind Einheimische, und die Wahrscheinlichkeit, dass so viele gewalttätige Vorfälle in derart kurzer Zeit …«
Ich verstummte, weil sie heftig den Kopf schüttelte.
»Nun, was ist?«
»Hier.« Sie tippte auf das unterste Blatt, das mir irgendwie entgangen war, weil es ein anderes Format hatte und lediglich eine Namensliste enthielt. Ich hatte es für eine Art Index gehalten, weil einige Namen enthalten waren, die ich bereits in den Polizeiakten gelesen hatte. Jetzt schaute ich noch einmal hin, und der Groschen fiel. Wenn der Bourbon nicht bereits ausnehmend sauer gewesen wäre, wäre er spätestens jetzt in meinem Magen zu einem schmerzhaften Klumpen geronnen.
Die Liste, die auf einer altmodischen mechanischen Schreibmaschine getippt und großzügig mit Tipp-Ex korrigiert worden war, trug als Überschrift nur ein einziges Wort:
Kirchgänger
.
»Heilige Scheiße«, murmelte ich.
»Nein, Castor.
Un
heilige Scheiße. Das ist der Punkt.«
»Gehen all diese Leute in die Saint Michael’s?«
Juliet nickte.
»Und jetzt haben sich alle in gemeingefährliche Irre verwandelt.«
»Das ist eine Frage der Semantik.«
»Wirklich?«
»Wenn du es Irresein nennst, unterstellst du, dass sie ihre moralische Urteilsfähigkeit verloren haben.«
»Pensionäre vergewaltigen? Zwei rechts, zwei links stricken und dann eine Luftröhre durchbohren? Was haben sie
deiner
Meinung nach verloren?«
»Ihr Gewissen. Das Böse, das bereits in ihnen steckte, hatte freie Bahn. Sämtliche Begierden befriedigen sie auf die direkteste und simpelste Art, die sie finden. Wenn es Wollust ist, vergewaltigen sie. Ist es Zorn, morden sie. Und wenn es Habgier ist, plündern sie eine Mall.«
»Demnach nimmst du an, dass diese Leute in der Whiteleaf …?«
»Ich nehme es nicht an. Ich habe es überprüft.«
Juliet griff wieder in ihre unergründliche Tasche und holte eine kleine Kollektion Portemonnaies und Brieftaschen hervor und ließ sie auf den Tisch fallen. Ich erinnerte mich plötzlich, wie sie neben einem der Männer kniete, die sie ausgeschaltet hatte. Ich hatte angenommen, dass sie seinen Puls fühlte, stattdessen hatte sie ihn offenbar gefilzt.
»Jason Mills«, sagte sie. »Howard Loughbridge. Ellen Roederer.«
Ich schaute auf die Liste, aber ich wusste längst, was ich dort finden würde.
»Und Susan Book«, fügte ich hinzu,
Weitere Kostenlose Bücher